Die kluge Feldmaus
Der Maulwurf saß im Abendrot,
erfreute sich der Welt
und lobte was ihm hier und dort
und um und um gefällt.
Im Rasen vor dem Hügel sprach
die neunmal kluge Maus,
"Du wühlst doch nur in Dreck und Müll
und kommst du dort heraus,
du siehst kaum eine Nase weit.
Du kennst die Welt doch nicht.
Doch ich erkenne alles scharf
und klar im rechten Licht!"
"Verstehen kann man Dinge nur",
so wieherte das Pferd,
"wenn man den Horizont erkennt,
nur so misst man den Wert,
von allem, was man sieht und trifft.
Drum überheb dich nicht,
du Maus bist diesem Maulwurf gleich,
bist nur kleiner Wicht."
Ein Adler über Bergen spannt die
Flügel aus und fliegt
der Abendsonne zu, derweil
das Tal im Dunkel liegt.
PS:
Das ist eine Fabel in gereimter Form, ungereimte klingt sie folgendermaßen:
Die kluge Feldmaus
Der Maulwurf ruhte sich vom Graben aus und saß blinzelnd auf seinem Erdhaufen. "Wie schön," rief er, "wie schön ist doch diese Welt, wie herrlich, wenn man sie erforscht und kennt!" "So, so?!" sprach die Feldmaus und knabberte geschäftig an einem Grashalm. Der Maulwurf hatte sie in der Wiese neben dem Erdhaufen gar nicht gesehen und drehte sich fragend um, weil er den ironischen Unterton der Frage nicht verstand. Die Feldmaus kicherte: "Da bin ich gespannt, welche herrlichen Wahrheiten du in der Welt hervorwühlst." "O, ja!" erklärte der Maulwurf, "du kannst dir gar nicht vorstellen, wie vielfältig die Erdschichten, Steinchen, Würzelchen und Würmchen in der Welt verteilt sind. Wenn man nicht einfach nur alle in sich hineinfrisst, sondern gut beobachtet und forscht, muss einem das auffallen. Es gibt reiche Gebiete, die man in vielen Tagen nicht völlig beackern kann, und auch große Wüsten, wo es gar keine Wurzeln gibt und sich auch sonst nichts aufhält." "Das ist in der Tat eine große Wissenschaft," versetzte die Maus, ließ den Grashalm lässig fallen und stellte sich auf die Hinterbeine: "Ich sage dir folgendes. Wenn du in der Richtung, von der gerade das Licht herkommt, gräbst, dann ist da ein Gebiet mit vielen Wurzeln. Dort steht nämlich ein Baum, auf dem ich bisweilen herumklettere und in dessen Wurzeln ich meinen Vorrat verstecke, den Euresgleichen bisweilen zur großen Entdeckung erklärt und mir nichts dir nichts wegfrisst!" Der Maulwurf war von dem selbstsicheren Auftreten der Feldmaus beeindruckt, ihn verwunderte vor allem der seltsame Ausdruck, "von der gerade das Licht herkommt." Als ob sich das Licht bewegen könnte, das Licht ist doch immer oben und unten ist das Dunkel. Aber die Feldmaus fragen, das traute er sich nun nicht mehr und er verkroch sich in seinem Erdhaufen.
Das Pferd, welches zufällig auf dieser Wiese graste, hatte das Gespräch mit seinen feinen Ohren gehört und schnaubte die Feldmaus an: "Wiehie kannst du nur so überheblich sein? Immer wieder laufen deine kurzsichtigen Artgenossen der lauernden Katze in die Fänge. Wer weiß, ob es Dir morgen nicht genauso ergeht. Und der Baum, auf dem du herumkletterst, ist nur einer von einer ganzen Kette, die sich entlang des Baches durch das ganze weite Tal zieht. Und dort sind Wälder und dort Kornfelder und dort andere Wiesen, von denen du gar nichts weißt. Du schaust doch auch nur auf das, was sich vor deine Nase befindet, und unterscheidest dich vom Maulwurf kaum. Den Horizont muss man sehen, sonst weiß man gar nichts, am Horizont zieht die Gefahr auf und der Horizont verschafft uns die Freiheit!" Die Feldmaus stieg auf den Erdhaufen, richtete sich so groß sie nur konnte auf und rief: "Papperlapapp! Ich erkenne die Dinge genau, wenn ich sie betaste, auf ihnen herumklettere und sie mit meinen scharfen Zähnen untersuche. Du alter Hans-guck-in-die-Luft redest ja nur vom Horizont, weil du die Details der Dinge nicht sehen kannst..." Dieses und noch vieles mehr sagte die Feldmaus. Hoch über der Feldmaus auf dem Maulwurfshügel, über dem Pferd, über der Wiese und dem Tal schwang sich ein Adler mit kräftigen Schwingen der Sonne entgegen, blickte über Berg und Wolke und richtete sein scharfes Auge hinab und erfreute sich der Schönheit der Welt.
© Ralf Schauerhammer