Donnerstag, den 22.8. 2024
um 19 Uhr
Galerie am Stall
Am Ebenesch 4
27798 Hude
Der Lyriker Ralf Schauerhammer liest aus „Der kleine Prinz“, der berühmten Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry.
So beginnt die Lesung
DER KLEINE PRINZ
1. Kapitel
Als ich sechs Jahre alt war, sah ich einmal in einem Buch über den Urwald, das "Erlebte Geschichten" hieß, ein prächtiges Bild. Es stellte eine Riesenschlange dar, wie sie ein Wildtier verschlang.
In diesem Buch hieß es: "Die Boas verschlingen ihre Beute als Ganzes, ohne sie zu zerbeißen. Daraufhin können sie sich nicht mehr rühren und schlafen sechs Monate, um zu verdauen."
Ich habe damals viel über die Abenteuer des Dschungels nachgedacht und ich vollendete mit einem Farbstift meine erste Zeichnung. Meine Zeichnung Nr. 1. Sah so aus:
Ich legte mein Meisterwerk den großen Leuten vor und fragte sie, ob ihnen die Zeichnung nicht Angst mache. Sie sagten: "Warum sollen wir vor einem Hut Angst haben?" Meine Zeichnung stellte aber keinen Hut dar. Es war eine Riesenschlange, die einen Elefanten verdaut. Ich zeichnete also das Innere der Boa, um es die großen Leute deutlich zu machen. Sie brauchen ja immer Erklärungen. Meine Zeichnung Nr. 2 sah so aus:
Die großen Leute rieten mir dann, das Zeichnen von offenen oder geschlossenen Boas bleiben zu lassen und mich mehr mit Geographie, Geschichte, Mathematik und Grammatik zu beschäftigen.
So kam es, dass ich im Alter von sechs eine wunderbare Karriere als Maler aufgab…
Ich musste mir also einen anderen Beruf wählen, und ich lernte fliegen...
Wenn ich jemanden traf, der mir ein wenig heller vorkam, zeigte ich meine Zeichnung Nr. 1, die ich gut aufgehoben hatte. Ich wollte wissen, ob er sie verstand. Aber jedesmal bekam ich zur Antwort: "Dies ist ein Hut." Dann wusste ich, dass ich mit diesen Leuten nicht über Boas oder den Dschungel reden konnte. Also stellte ich mich auf sie ein und sprach mit ihnen über Kartenspiele, Golf, Politik und Krawatten. Die großen Leute waren dann immer froh, einen vernünftigen Mann kennengelernt
zu haben.
2. Kapitel
Ich blieb also allein, ohne jemanden, mit dem ich wirklich hätte sprechen können, bis ich vor sechs Jahren in der Sahara einen Unfall hatte. Etwas in meinem Motor war gebrochen. Weil ich aber weder einen Mechaniker, noch Passagiere an Bord hatte, machte ich mich ganz allein an die
schwierige Reparatur. Es ging für mich um Leben oder Tod, denn ich hatte für kaum acht Tage Trinkwasser.
Tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend entfernt schlief ich in der ersten Nacht im Sand. Ich war einsamer als ein schiffbrüchiger Matrose auf einem Floß im Ozean. Umso größer war meine Überraschung, als bei Tagesanbruch eine seltsam kleine Stimme mich weckte. Sie sagte:
"Bitte … zeichne mir ein Schaf!"
"Wie bitte?"
"Zeichne mir ein Schaf …"
Ich bin auf die Füße gesprungen, als hätte mich der Blitz getroffen. Ich rieb mir die Augen und schaute ganz genau hin. Da entdeckte ich ein außergewöhnliches Männlein, der mich ernst betrachtete…
Der kleine Mann schien sich weder verirrt zu haben, noch sah er todmüde, verhungert, verdurstet oder ängstlich aus... Als ich endlich sprechen konnte, sagte ich:
"Aber … was machst du denn da?"
Da wiederholte er langsam und sehr ernsthaft:
"Bitte … zeichne mir ein Schaf …"
Wenn etwas Geheimnisvolles besonders beeindruckend ist, kann man nicht widerstehen. So absurd es mir auch erschien, in Todesgefahr tausend Meilen von jeder menschlichen Behausung entfernt, ich nahm aus meiner Tasche ein Blatt Papier und einen Füllfederhalter…
Da ich noch nie ein Schaf gezeichnet hatte, zeichnete ich ihm eines der beiden Bilder, die ich nur zeichnen konnte. Das von der Boa. Ich war sehr erstaunt, als ich den kleinen Mann sagen hörte:
"Nein! Nein! Ich will keinen Elefanten in einer Riesenschlange. Eine Riesenschlange ist sehr gefährlich und ein Elefant braucht viel Platz. Bei mir zu Hause ist wenig Platz. Ich brauche ein Schaf. Zeichne mir ein Schaf."
Also zeichnete ich eines:
Er sah es aufmerksam an und sagte:
"Nein! Das ist schon sehr krank. Zeichne ein anderes."
Ich zeichnete…:
Mein Freund lächelte nun sanft und nachsichtig:
"Sieh doch … das ist kein Schaf, es ist ein Widder. Er hat Hörner …"
Also machte ich noch eine weitere Zeichnung:
Aber auch sie wurde abgelehnt wie die beiden zuvor.
"Dieses ist zu alt. Ich will ein Schaf, das noch lange leben wird."
Mir ging nun die Geduld aus, denn ich musste ja unbedingt meinen
Motor reparieren, so kritzelte ich… und brummte: "Das ist eine Kiste.
Das Schaf, das du willst, ist dort drin."
Ich war höchst überrascht, als sich das Gesicht meines jungen Kritikers aufleuchten sah:
"Das ist ganz so, wie ich es mir gewünscht habe! Meinst du, dass dieses Schaf viel Gras braucht?"
….