Wie funktionieren Gedichte?

Ralf Schauerhammer

Die Frage: "Wie funktionieren Gedichte?" beantworten Gedichte beim Lesen und Nachdenken von selbst. Im Folgenden sind einige Gedanken zusammengestellt, welche der aufmerksame und selbstkritische Leser schöner Poesie wahrscheinlich für selbstverständlich und offensichtlich hält. Aber dieser Leser ist heute selten geworden, und vielleicht können durch die folgenden Zeilen der Poesie ein paar Freunde gewonnen werden.

Aufmerksames und selbstkritisches Lesen unterscheidet sich vom Konsumieren von Kunst dadurch, dass der Leser das Kunstwerk nicht nur genießt, sondern sich über das freut, was der Dichter mit dem Gedicht in seinem Herzen und Kopf "anstellt", dass er darüber nachdenkt, warum und wieso dieses möglich ist, und schließlich vor der Frage steht, warum das selbe Kunstwerk auch bei verschiedener Interpretation (Werktreue vorausgesetzt) nicht nur auf ihn selbst immer im Wesentlichen gleich wirkt, sondern auch auf andere Personen. Der Dichter "beherrscht" tatsächlich "das bewegte Herz" des Hörers auf ganz gesetzmäßige Weise. Wie macht er das? Welche Mittel hat er zu Verfügung? Welche wesentlichen Merkmale muss die menschliche Sprache haben, damit das überhaupt möglich ist?

Wenn man die Worte eines Gedichtes isoliert betrachtet oder eine Inhaltsangabe fabriziert, bleibt weniger als nichts davon übrig. In den einzelnen Worten kann das Wesen des Gedichtes nicht liegen und auch der wiedererzählbare Inhalt ist ganz offensichtlich nicht der wahre Inhalt des Gedichtes. Gedichte lassen sich nicht auf "ihr Material" reduzieren. Die Substanz des Gedichtes ist weder in den Worten noch im Inhalt seiner Erzählung; vielmehr ist die Anordnung der Worte, der dadurch entstehende Rhythmus der Sprache und ihr melodischer Verlauf, also die "Komposition", das Wesentliche des klassischen Gedichtes, welches auf "geheimnisvolle" Weise etwas unaussprechliches aussprechen kann.

Jeder poetische Text ist rhythmisch-melodisch "komponiert". Das gleiche gilt aber auch in geringerem Maße für Prosatexte, wenn diese mit Herz und Verstand geschrieben sind, also sprech- und hörbar sind und nicht nur aus vorgefertigten Textbausteinen, Gesetzesformeln oder Höflichkeitsfloskeln bestehen.

Die rhythmisch-melodische Komposition der Sprache, d.h. ihr poetisches Wesen, ist notwendig, weil Sprache nur dann eine "Information vermitteln" kann, wenn der "Empfänger" dazu angeregt wird, selbst den gleichen schöpferischen Gedankenprozess zu durchlaufen, den der "Sender" ausdrücken will. Die Sprache ist also kein "Medium" der Informationsübermittlung, sondern eher ein "Medium" zur Übermittlung von Formen, welches zu Metaphern und bestimmten Ideen anregt, indem sie diese durch die Sprache versinnlicht. Diese Qualität der Sprache ist die Grundlage der Poesie.

Wilhelm von Humboldt macht in seinem Aufsatz "Natur und Beschaffenheit der Sprache überhaupt" folgenden wesentlichen Punkt: "Die Sprache ist auch in ihren Anfängen durchaus menschlich und dehnt sich absichtslos auf alle Gegenstände zufälliger sinnlicher Wahrnehmung und innerer Bearbeitung aus. Auch die Sprache der sogenannten Wilden, die doch einem solchen Naturzustande näher kommen müssten, zeigen gerade eine überall über das Bedürfnis überschießende Fülle und Mannigfaltigkeit von Ausdrücken... Denn der Mensch, als Tiergattung, ist ein singendes Geschöpf, aber Gedanken mit den Tönen verbindend." Die Sprache ahmt nicht die Sinnendinge nach, wenn die Sprechaktion überhaupt etwas "nachahmt", dann sind es die Gefühlsbewegungen menschlicher Denkprozesse. Oder beispielhaft gesagt: Wenn Worte, welche Bewegung ausdrücken, häufig die Konsonanten "r" oder "w" enthalten ("wirbeln", "rotieren", "rollen"), dann nicht, weil die Sinneseindrücke der Bewegungen so klingen, sondern weil die Sprechaktion dieser Konsonanten mit großer Bewegung verbunden ist und die Idee "Bewegung" am besten "nachahmend" artikuliert (1). Die menschliche Sprache vermittelt nicht Sinnendinge, sondern Ideen.

Bisweilen wird behauptet, die poetische Sprache habe ihren Rhythmus dadurch empfangen, dass sie ursprünglich zu rhythmischen Bewegungen oder zum Tanz vorgetragen wurde, als ob der Rhythmus der Sprache etwas ganz äußerliches sei, dem sie sich unterwerfen müsste. Die Sprache enthält jedoch ihren internen Rhythmus und ihre Dynamik unmittelbar von dem zugrundeliegenden schöpferischen Denkprozess. Schöpferische Gedanken sind nämlich nicht einfach da, der Geist muss sie erarbeiten, er bringt sie unter emotionalen Spannungen hervor, er stellt vorwärtslaufend eine Folge von Hypothesen auf, stellt eine andere Folge hemmend dagegen, greift die erste Folge in erweiterter Form auf, wird erneut gehemmt, nimmt einen weiteren Anlauf usw. Der Rhythmus dieser "Geburtswehen" schöpferischen Denkens ist es, der in die Sprache übergeht, und das umso mehr, je näher und "angemessener" die Sprache den Denkprozess beschreibt (2). Daher erhält die poetische Form ihren Rhythmus, der später beim öffentlichen lauten Vortrag, möglicherweise durch rhythmische Gesten, d.h. Tanz, unterstrichen werden kann, jedoch nicht durch Gesten in sie hinein transportiert wurde.

All diese gerade beschriebenen Eigenschaften der Sprache sind es, die es dem Dichter erlauben, Inhalte in einer "passenden" Form zu vermitteln; diese Form muss eine strenge rhythmisch-melodische Komposition erlauben, welche der eigenen schöpferischen Erfahrung der zu vermittelnden Inhalte entspricht. Dieser Zusammenhang zwischen Inhalt und Form ist die Grundlage für Schönheit in der Kunst sowie der Übereinstimmung von Schönheit und Wahrheit (3).

Fehlt der Inhalt des schöpferischen Gedankens, oder tritt er lediglich als etwas Neuartiges, Außergewöhnliches und Zufälliges hervor und wird die Form zur Formel: Der einfache Reiz des Sprachschnörkels tritt an die Stelle erfahrbaren schöpferischen Denkens, und eine strenge Komposition ist nicht mehr möglich. Dominiert der Inhalt, verdrängt also das Resultat den Gedanken, so wird der Vortrag unschön und unverständlich, weil der wahre Denkprozess, welcher zu der entsprechenden Einsicht führte, versteckt wird; typisches Beispiel ist der mathematische Vortrag, an dessen Ende sich der Hörer meist wundert, wie der Vortragende auf die dargestellten Ergebnisse hat kommen können.

Die höchste Vollendung der rhythmisch-musikalischen strengen Komposition in der Poesie erreichte meiner Meinung nach bisher Friedrich Schiller in seinen philosophischen Gedichten, zu denen auch einige "Balladen" gehören, wie z.B. "Das verschleierte Bild zu Sais" und natürlich "Das Lied von der Glocke" (4). In diesen Gedichten vermittelt Schiller die tiefsten philosophischen Ideen völlig subjektiv, indem er seinen Leser durch den Kampf, der zum Erringen der Idee notwendig ist, hindurchführt und ihn durch die Komposition des Gedichtes erst auf die hohe emotionale Ebene hebt, auf der er den Inhalt begreifen kann. Dem selbstkritischen Leser wird beim ersten lauten Lesen dieser Gedichte das Herz sagen, dass der Verstand den Inhalt noch nicht ganz erfasst hat, weil das Herz, welches Schillers Komposition viel direkter erfasst, etwas viel größeres erfahren hat als der Kopf. Wenn der Leser dadurch angeregt wird, sich mit dem Inhalt des Gedichtes wiederholt zu beschäftigen, folgt schließlich der Kopf dem Herzen nach. Diese Erfahrung ist Beweis für die strenge Komposition in dem oben beschriebenen Sinne.

Die kompositorischen Mittel, welche dem Dichter zur Verfügung stehen, unterscheiden sich in verschiedenen Sprachen deutlich; im Wesentlichen sind es jedoch Rhythmus und Sprachmelodie. In Schriftsprachen kommt noch ein gewisser visueller Aspekt hinzu, denn genau so, wie der Leser selbst beim stummen Lesen die Sprache vor seinem geistigen Ohr erklingen lassen kann, sieht er den poetischen Text, selbst wenn er laut vorgetragen wird, vor seinem geistigen Auge. Die Wirkung ist jedoch bei europäischen Buchstabenschriften sehr gering, wogegen sie z.B. in der chinesischen Poesie deutlich hervortritt.

Betrachten wir also die wesentlichen Mittel des Rhythmus und der Sprachmelodie. Im Gegensatz zur musikalischen Notenschrift ist in der normalen Schrift zu den Worten weder ein festes Metrum, oder gar ein Takt, noch die jeweilige Tonhöhe angegeben. Das hat seinen guten Grund, denn diese musikalischen Aspekte sind zwar in der poetischen Sprache gesetzmäßig enthalten, aber nicht als "fixierte" Klänge und Maße, sondern als "Ordnungstypen". So lässt sich ein Gedicht auf viele verschiedene Weisen zu einem Lied vertonen, aber alle gelungenen Vertonungen werden etwas Charakteristisches gemeinsam haben, worin dieser musikalische "Ordnungstypus" des Gedichtes zum Ausdruck kommt.

Wie aber kommt Rhythmus und Melodie in das Gedicht hinein, und wie kommen beide beim Lesen wieder heraus?

Betrachten wir den ersten Teil der Frage. Wenn der Dichter eine ihm wesentliche, neue und große Idee erfasst hat oder eine bekannte tiefer begriffen hat, versucht er, diesen Erkenntnisprozess vollständig und wahrhaftig auszudrücken. Da es für ihn eine neue Idee ist, ist sie mit den bisherigen Mitteln vorerst unaussprechbar. Die meisten Menschen kennen das; man hat gerade eine aufregende Entdeckung gemacht und will sie mitteilen, aber es gelingt nicht, und je mehr man sich auf die Erklärung konzentriert, desto mehr verblasst die neue Entdeckung und droht plötzlich wieder ganz zu verschwinden. Genauso tritt dem unmittelbaren subjektiven Geistesprozess des Dichters die Sprache als etwas Objektives, Begrenzendes entgegen; sie ist ein externes Medium, mit dem er den schöpferischen Denkprozess nachbilden muss. Und die Grenzen dieses Mediums bestehen in den Formen und Ausdruckmöglichkeiten, welche geniale Dichter der Vergangenheit entwickelt haben. Dem Dichter sind, im Gegensatz zu uns normalen Sterblichen, die Kompositionsprinzipien der sprachlichen Formen bekannt. Deswegen schwebt ihm, bevor er seinen Geistesprozess überhaupt artikulieren kann, das "Musikalische" des Gedichts vor. Er hört keine Melodie, sondern einen musikalischen "Ordnungstyp", der zur emotionalen Bewegung seines Geistesprozesses kongruent ist. Dieses "Musikalische" füllt er "plastisch" mit Sätzen, Worten und Klängen in bestimmten melodischen und rhythmischen Formen aus.

Der zweite Teils der Frage beantwortet sich fast von selbst, wenn eine wichtige Voraussetzung geklärt ist. Damit nämlich die Wirkung des Gedichts wirklich eine Universelle sein kann, muss der Dichter ein "klassicher Dichter" sein, der die Kompositionsprinzipien der Sprache mit aller Strenge weiterentwickelt. Darüber hinaus muss er sicher sein, dass er nicht nur individuelle, extravagante Gefühle ausdrückt, sondern dass seine individuellen Gefühle dem Universellen und Wesentlichen der Menschheit insgesamt entsprechen. Schiller sagt, der Dichter müsse "seine Individualität zur reinsten herrlichsten Menschlichkeit hinaufläutern."

Ist diese Voraussetzung erfüllt, so ist es ganz selbstverständlich, dass jeder fühlsame Mensch den vom Dichter in das Gedicht hineingelegten rhythmischen und melodischen Gehalt wieder hervorbringen kann. Er muss sich nur, genau wie der Dichter, jeder Extravaganz enthalten. Er muss ganz hinter den Dichter zurücktreten, muss bescheiden zuhören, muss sich über Herausgehörtes freuen, aber aufmerksam bleiben und alles hören wollen. Er kann getrost seine Individualität so lange vergessen, bis er das Gedicht so in sich aufgenommen hat, dass es ihm wirklich gehört. Wenn er es dann spricht, wird ganz von selbst das Beste seines Wesens mit hervortreten. Er braucht dann auch keine Angst haben, dass er beim Vortrag sein Innerstes offen legt, denn es kommt ja das Beste seines Wesens zum Vorschein.

Die poetische Form, in welcher uns Gedichte entgegentreten, ist nur aus diesem Entstehungsprozess des wahren Kunstwerks zu begreifen. Im Allgemeinen wird in Poetiken von der poetischen Form geredet, als handele es sich um etwas, das vom Dichter wie eine Backform ausgefüllt werden müsse, um den Kriterien der gelehrten Sprachwissenschaftler zu entsprechen.

Die Form ist in Wirklichkeit ein Prinzip, welches "von innen" wirkt, genau wie die ganz bestimmte Form eines Baumes, z.B. einer Eiche oder Birke, von selbst in Erscheinung tritt und nicht dadurch, dass sie von außen mit der Schere zurechtgestutzt wird oder gar Zweiglein und Äste verrückt werden. Wer den "fertigen" Baum messen will, der wird erstaunt feststellten, dass Äste, Zweige, Blätter, Blüten alle nach dem Maß des Goldenen Schnittes geordnet sind. Und wenn sein Geist recht akademisch verbildet ist, wird er über dem gefundenen Metrum die freie Vielfalt vergessen, welche uns das Wachstum des Baumes, "trotz" aller "Maßhaltigkeit", vor Augen führt.

Wie bereits angedeutet, sind die Formen auch gar nicht fixiert, sondern sie ändern sich, weil "der Meister" immer wieder "die Form zerbrechen kann" und muss. Nehmen wir zum Beispiel die Form des Sonetts, wo sich das "Shakespearsche Sonett" vom "romanischen Sonett" sogar in Strophenform und Reimfolge unterscheidet und trotzdem ein Sonett bleibt. Und selbst wenn diese äußeren Merkmale gleich bleiben, kann ein derart starker Wandel auftreten, dass die Form vom ungeübten Ohr kaum mehr als die gleiche erkannt wird. Man höre zum Beispiel nacheinander das Sonett "Abend" von Andreas Gryphius und Heinrich Heines "Fresko-Sonette an Christian S." (5). Ein anderes Beispiel ist die Weiterentwicklung und Veredelung der Balladenform durch Goethe und Schiller, wobei wohl Schillers "Der Graf von Habsburg" einen Höhepunkt der Formentwicklung darstellt. In der Romantik verflachte die Balladenform wieder bis hinab auf das Bänkelsängerniveau Brechts im 20. Jahrhundert. Ein drittes Beispiel ist die Entwicklung, welche der Hexameter in der deutschen Sprache von Klopstock bis Goethe und Schiller nahm. In dem Aufsatz "Die griechischen Formen und Maße in der deutschen Dichtung" beschreibt A. Lange in der "Deutschen Rundschau" diese Entwicklung und stellt fest, "dass in den Distichen" der Römischen Elegie "von Goethe" und "in Schillers Spaziergang die deutsche Poesie in griechischen Formen ihren Höhepunkt erreicht habe" (6). Aus Langes Aufsatz kann man auch entnehmen, wie die Entwicklung der deutschen Sprache mittels griechischer Formen vorangetrieben wurde; dabei wurden dem Deutschen keine fremden Formen aufgesetzt, sondern es wurde gerade das Charakteristische der deutschen Sprache mit Hilfe des in den griechischen Formen enthaltenen universellen Prinzips hervorgebracht, etwa so, wie sich eine Pflanze an einer Stütze höher emporranken und entfalten kann.

Wenn ein genialer Dichter (und nur geniale Dichter sind wirkliche Dichter) eine Form verwendet, so tut er das immer in einem Dialog mit den Dichter vergangener Zeiten, indem er diese "zitiert" und gleichsam sagt: "Seht her, ich habe euch verstanden und kann meine neue Idee tiefer und vollkommener ausdrücken, indem ich sie in diese weiter entfaltete Form bringe." Das von ihm hervorgebrachte Neue wird ihm selbst jedoch nicht als Erfindung vorkommen, sondern eher als Entdeckung universeller Naturgesetze, als etwas, das er nicht aus freien Stücken geschaffen hat, sondern als etwas, das bereits tief versteckt in den bestehenden Formen verborgen lag, wie das reine Kristall aus dem Erz hervortritt, wenn es gelingt, die Schlacke abzuscheiden.

Wenn nun einige Aspekte der rhythmisch-melodischen Gestaltung der poetischen Sprache detaillierter betrachtet werden, sollte der Zusammenhang zum Entstehungsprozess der poetischen Formen immer im Hinterkopf bewahrt werden. Dass dabei auf Fragen des Rhythmus und der Melodie notwendigerweise nacheinander eingegangen wird, darf nicht zu dem Irrtum verleiten, beide könnten voneinander getrennt werden. Ganz im Gegenteil, sie sind immer aufs innigste miteinander verbunden.

Wenn man beginnt, sich Gedanken über den Rhythmus eines Gedichtes zu machen, versucht man unwillkürlich, möglichst kurze Regelmäßigkeiten zu finden, und verfällt dadurch in den Grundfehler aller Poetiken. Durch die Konzentration auf das Erkennen des Metrums geschieht im Geiste genau dasselbe, was dem Anfänger oft beim Vortrag eines Gedichtes passiert: er leiert! Der Leiernde bemerkt unbewusst die vom Prosa abweichende gebundene Form des Rhythmus, versteht den Inhalt nur teilweise und kann die übergreifende rhythmische Dynamik nicht erfassen. Was er leiernd von sich gibt, wird "Metrum" genannt. Aber das Metrum im akademisch gebildeten Geiste des analysierenden Betrachters ist genauso schrecklich wie das Leiern des Dilettanten. Da bekommt zum Beispiel, verleitet durch die Wortakzente, Goethes "Fischer" bisweilen ein jambisches Versmaß verpasst. Also:

Das WASser RAUSCHT', das WASser SCHWOLL,
Ein FIscher SAß daRAN,
Sah NACH der ANgel RUheVOLL,
Kühl BIS ans HERZ hinAN.


Oder ist es nicht doch eher (wie Julius Hey meint):

Das Wasser RAUSCHT', das Wasser SCHWOLL,
Ein FIscher saß daran,
Sah nach der Angel RUhevoll,
Kühl bis ans HERZ hinan.

Oder liegen die stärksten Betontungen so (wie Eduard Sievers meint):

Das Wasser RAUSCHT', das Wasser SCHWOLL,
Ein Fischer SAß daran,
Sah nach der ANgel RUhevoll,
Kühl bis ans HERZ hinan.

Oder muss man, wegen des Bezuges der vierten Zeile zum gesamten Gedicht, so sprechen:

Das Wasser RAUSCHT', das Wasser SCHWOLL,
Ein Fischer SAß daran,
Sah nach der ANgel RUhevoll,
KÜHL bis ans Herz hinan.

Dabei entsteht nach dem Wort "ruhevoll" eine etwas längere Pause als in den vorherigen Beispielen.

Der Rhythmus kann nur entstehen, indem bestimmte Elemente (Silben oder Intervalle) hervorgehoben werden. Das kann durch den Nachdruck (d.h. den Akzent, die Lautstärke) oder die Länge geschehen. Vor allem ist das aber durch den einfachen Wechsel zwischen etwas und nichts, d.h. durch Pausen, möglich.

Den Grundrhythmus erhält Poesie durch die jeweilige "fast unhörbare" Pause am Ende der Verszeile, welche dem letzten Wort der Zeile, ganz ohne dass man es "leiernd" hervorheben müsste, eine größere Betonung gibt, die meist sogar noch durch den Gleichklang der Reimsilben verstärkt wird. Es ergibt sich daraus eine rhythmische Anordnung besonders bedeutungsschwerer Worte in der gebundenen Sprache (7). Da die Sprache, im Gegensatz zur Musik, keinen festen Takt hat, kann das Tempo von einer Verszeile zur anderen stark variieren und den Rhythmus des Gedichtes bestimmen. Ganz augenfällig wird dieser Effekt, wenn die Verszeilen sich halbieren oder verdoppeln, wie zum Beispiel die letzten beiden Zeilen des folgenden Teils aus Schillers "Das Lied von der Glocke":

Der Mann muss hinaus
Ins feindliche Leben,
Muss wirken und streben
Und pflanzen und schaffen,
Erlisten, erraffen,
Muss wetten und wagen
Das Glück zu erjagen.
Da strömet herbei die unendliche Gabe,
Die Räume wachsen, es dehnt sich das Haus.

Aber die "fast unhörbare" Pause am Ende der Verszeile ist nur eine Art der Pause. Oft erzeugt der Dichter auch Pausen, indem er völlig Konträres gegeneinander stellt. Ein sehr markantes Beispiel ist die folgende Stelle aus dem gleichen Gedicht, die Wirkung und Notwendigkeit der langen Pause vor "Freude" erkennt man jedoch nur, wenn man die Stelle im Zusammenhang des ganzen Gedichtes liest:

Weh denen, die dem Ewigblinden
Des Lichtes Himmelsfackel leihn!
Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden
Und äschert Städt und Länder ein.

Freude hat mir Gott gegeben!
Sehet! wie ein goldner Stern
Aus der Hülse, blank und eben,
Schält sich der metallne Kern.

Aber normalerweise werden viel kleinere Teile kontrastiert und erzeugen entsprechend kürzere Pausen. In Goethes "Der Schatzgräber" sind es nur zwei mal zwei Worte:

Tages Arbeit, abends Gäste!
Saure Wochen, frohe Feste!

Wenn man den auf den Verszeilen und Strophenfolgen basierenden Grundrhythmus eines Gedichtes erfasst hat, erkennt man auch, wie die einzelnen Zeilen intern geordnet sind, ohne dabei über allerlei herumliegende Versfüße zu stolpern (8). Bei dieser Betrachtung ist nun zu berücksichtigen, dass die Bedeutung der Tonstärke und Tonlänge in der Sprache und der Musik komplementär ist. Das Metrum der Musik wird vor allem durch die Tonlänge getragen; hinzu kommt die Tonstärke (Akzent auf Noten und Crescendo). Das Metrum der Sprache wird im Deutschen vom Akzent (also der Tonstärke) getragen; die Silbenlänge spielt dabei auch eine Rolle, jedoch nur eine untergeordnete. Die Silbenlänge hängt vor allem von der Länge des Vokals und in zweiter Linie von der Art des Konsonanten sowie von der Anzahl der verschiedenen Konsonanten ab (gedoppelte Konsonanten, z.B. mm oder tt, sind nur Schriftzeichen, welche die Verkürzung des davorstehenden Vokals anzeigen).

Besonders in der Reimsilbe hört man die Länge deutlich hervor. So kommt uns z.B. der Vers "Er sang zum allerletzten Mal / Mit wunderschönem Schall." eigentlich vor wie "Er sang zum allerletzten Mal / Mit wunderschönem Schal." Was ja auch möglich, aber hier wohl nicht gemeint ist.

Eine deutliche Bestätigung der komplementären Bedeutung von Länge und Akzent in Musik und Poesie als auch des Gewichts der Reimsilben liefert das Volkslied. Bei den einfachen Volksliedern erhalten die Reimworte immer lange Noten. Zum Beispiel haben in "Hänschen klein, ging allein" alle normalen Silben Viertelnoten und die Reimsilben halbe Noten. Das gleiche gilt für das aus Mähren stammende Volkslied "Im Märzen der Bauer sein Rösslein einspannt". Das schweizerische Volkslied "Grüß Gott, du schöner Maien" weist die selben Längenverhältnisse auf, wobei das Reimwort Maien zusätzlich eine Verzierung erhält. Dieses findet man bei Volksliedern immer wieder. Außerdem kann man bisweilen beobachten, dass das Metrum durch den Wechsel von langen und kurzen Notenwerten angedeutet wird. Zum Beispiel in dem Hessischen Volkslied "Zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal" wird das trochäische Versmaß durch punktierte Achtel und folgende Sechzehntel markiert. Ein besonders lustiges Beispiel ist auch das Lied "Auf der schwäbschen Eisenbahne", welches insgesamt den regelmäßigen Rhythmus der Eisenbahn durch Achtelnoten imitiert, aber dennoch die Zeilen entsprechend dem Versmaß mit punktierter Achtel, gefolgt von einer Sechzehntelnote, beginnt. Auch Mozart bestätigt dieses Prinzip und wendet es (1791) für die Melodie des Volkslieds "Komm lieber Mai" (Texte Christian A. Overbeck, 1775) an, indem er das Versmaß genau überträgt, wobei unbetonte Silben 1/8-Noten erhalten, betonte erhalten 1/4-Noten und die Reimsilbe wie üblich eine zusätzliche Länge:

Komm lie-ber Mai und ma-che die Bäu-me wie-der grün.
1/8 1/4 1/8 1/4 1/8 1/2 1/8 1/8 1/4 1/8 1/4 1/8 3/8

Es wird danach kaum überraschen, dass Karl Friedrich Zelter in seiner Vertonung von Goethes "Es war ein König in Thule" ganz penibel die Akzentstärken in Tonlängen umsetzt und dabei sogar die stärkeren Akzente von den schwächeren durch die passenden Notenwerte unterschiedet.

Soviel zum Zusammenhang zwischen dem Metrum der poetischen Sprache und Musik. Das Deutsche hat noch zwei Eigenarten, welche der dichterischen Gestaltungsfähigkeit entgegenkommen.

Erstens ändert sich auch die Silbenlänge der Worte, und zwar zumeist in Abhängigkeit von der inhaltlichen Bedeutung des Wortes im Satzzusammenhang. Zum Beispiel wird das relativ kurze "Flehen" in: "Da hilft kein Betteln und kein Flehen" in "Ich flehe dich an!" zu einem Flehen mit langen "e", welche sein Dehnungs-h mehr als verdient.

Zweitens wandelt sich die Stärke des Akzentes, je nachdem in welchem Zusammenhang die Silbe steht, und zwar so, dass sie von starken Nachbarakzenten abgeschwächt und von schwachen verstärkt wird. Dieses Prinzip wirkt sogar über benachbarte Silben hinweg und führt dazu, dass oft von zwei aufeinanderfolgenden Hebungen eine verstärkt und die andere etwas abgeschwächt wird. Im Beispiel von Goethes Fischer wird z.B. der Akzent auf der ersten Silbe von "Wasser" gegenüber "rauscht'" so schwach, dass diese Silbe sich kaum mehr von einer unbetonten unterscheidet.

Doch es kann auch das genaue Gegenteil auftreten, was insbesondere in Schillers Gedichten zu Zeilen führt, bei denen fast nur betonte Silben aufeinanderfolgen, etwa wie die Akkorde in einer musikalischen Schlusskadenz. Ein solches Beispiel, welches man jedoch nur im Zusammenhang des gesamten Gedichtes richtig hört, ist die Schlusszeile von Schillers "Hoffnung": "Das täuscht die hoffende Seele nicht", oder der Schluss von "An die Freunde": "Was sich nie und nirgends hat begeben, / Das allein veraltet nie!", wo ab dem Wort "nirgends" praktisch alles betont ist.

Nachdem wir uns nun eine Weile auf den rhythmischen Aspekt der gebundenen Sprache konzentriert haben, wird es Zeit, daran zu erinnern, dass eng verbunden damit die melodische Bewegung der Sprache einhergeht. Genau wie die grammatikalische Wortstellung ist die Satzmelodie im Deutschen sehr variabel. Am Ende des Satzes ist die Melodie fallend, außer beim Fragesatz, der durch Anheben der Stimme charakterisiert ist. Ansonsten wird die Tonhöhe im Hochdeutschen hauptsächlich vom Bedeutungsgehalt bestimmt, d.h. sie verhält sich wie die Tonstärke und läuft daher dem vom Akzent erzeugten Rhythmus parallel. Dabei nimmt die Größe der Intervalle mit der emotionalen Spannung zu. Man vergleiche zum Beispiel den resignierten Satz: "Ach, wäre die Geliebte doch noch am Leben." mit dem Satz: "Strenger Tod, gib mir die Geliebten wieder!" In dem ersten Satz ist die Tonhöhe fast unverändert, nur "Geliebte" und "Leben" sind leicht erhöht. Der zweite Satz ist geprägt durch stark ansteigende Intervallschritte von "Tod" über "gib mir" zu "Geliebte" und dann nochmals auf "wieder".

In beiden Beispielen erkennt man auch, wie sich "helle" und "dunkle" Vokale in die Sprachmelodie einpassen. Beispiele dafür, wie sich die harmonische Ordnung, welche das Vokalsystem jeder Hochsprache aufweist, auf den melodischen Gehalt der Poesie auswirkt, sind an andere Stelle ausführlich entwickelt (9).

Obwohl nur die Musik feste Tonhöhen und Intervalle besitzt und die Tonhöhe bei gesprochener Poesie stark von der individuellen Stimme des Vortragenden abhängen, ist dennoch auch im Gedicht eine charakteristische Tonhöhe festzustellen, welche einen starken Einfluss auf die vermittelte Gemütslage haben kann. Man vergleiche nur die folgenden beiden Teile aus Schillers "Das Lied von der Glocke", welche übrigens vom Rhythmus her recht ähnlich sind. Zuerst die dunkle Stelle:

Von dem Dome,
Schwer und bang,
Tönt die Glocke
Grabgesang.
Ernst begleiten ihre Trauerschläge
Einen Wandrer auf dem letzten Wege.

und nun die helle Strophe:

Heil'ge Ordnung, segensreiche
Himmelstochter, die das Gleiche
Frei und leicht und freudig bindet,
Die der Städte Bau gegründet,
Die herein von den Gefilden
Rief den ungesell'gen Wilden,
Eintrat in der Menschen Hütten,
Sie gewöhnt zu sanften Sitten,
Und das teuerste der Bande
Wob, den Trieb zum Vaterlande!


Ein besonders wichtiger Aspekt des Melodischen ist in Gedichten der Wechsel der Klangfarbe. Das wird sofort deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass auch in der Umgangssprache die Klangfarbe des gesprochenen Wortes sehr eng mit der emotionalen Spannung zusammenhängt. Man vergleiche nur den Klang des "o" im Wort "Morgen" in dem Satz: "Morgen sehen wir uns wie jeden Donnerstag im Stammlokal" mit dem in: "Morgen sehen wir uns endlich wieder."

Die Veränderung der Klangfarbe ist im wahrsten Sinne des Wortes ein "Registerwechsel", welchem in der Poesie ganz entscheidende Bedeutung zukommt. Leider ist die Klangfarbe schwer zu beschreiben und noch schwerer zu messen. Es folgt deshalb ein Experiment, an dem man die Hörgewohnheit schulen kann. Kurz vor dem Ende der Ballade "Die Füße im Feuer" von Conrad Ferdinand Meyer ist folgende Beschreibung eines morgendlichen Ritts durch den Wald nach einem Gewitter:

Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.
Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.
Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.
Friedsel'ge Wolken schwimmen durch die klare Luft,
als kehrten Engel heim von einer nächt'gen Wacht.
Die dunkeln Schollen atmen kräft'gen Erdgeruch.
Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.

Man lese diese aus Stelle, völlig aus dem Zusammenhang des Gedichtes als eine reine Naturbeschreibung und nehme das Gesprochene mit dem Tonbandgerät auf. Dann lese man die Stelle nochmals, aber diesmal im Zusammenhang des gesamten Gedichtes. Nun vergleiche man die Klangfarbe der Stimme. Man wird an der Klangfarbe, welches das vorhergegangene Gedicht der Stimme mitgibt, feststellen, dass es sich bei dieser Stelle eben nicht um eine reine Naturbeschreibung handelt, sondern um ein metaphorisches Abbild dessen, was in der Seele des Schlossherrn vor sich geht (10).

Doch die Klangfarbe kann sich auch schon ändern, bevor eine emotionale Veränderung eingetreten ist. Sie bringt dann die Bedeutung einer Handlung oder Beschreibung für noch kommendes zum Ausdruck. Ein Beispiel dafür ist die Zeile "Das edle Tier wird eingespannt" in Schillers "Pegasus im Joche". Die Klangfarbe ist nicht die des normalen Erzählens, wie noch kurz vorher bei "Erstaunt blieb jeder stehn ud rief"; sondern es klingt bereits an, dass es gleich "nicht mit rechten Dingen" zugehen wird.

In der einfachsten Form unterscheidet die Klangfarbe direkte Rede unterschiedlicher Personen in einem Gedicht. Zum Beispiel in Goethes Erlkönig den Erzähler ("Wer reitet so spät"), den Vater ("Mein Sohn, was birgst du"), den Sohn ("Siehst Vater du den Erlkönig") und den Erlkönig ("Du liebes Kind, komm"). Aber darüber hinaus verändert sich in diesem Gedicht die Klangfarbe jeder dieser Stimmen. Die des Vaters von "Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif" zu "Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau", die des Sohnes von "Siehst Vater du den Erlkönig nicht" bis zu "Erlkönig hat mir ein Leids getan". Das gleiche gilt für die letzte Zeile des Erlkönigs "so brauch ich Gewalt" und die letzten beiden Zeilen des Erzählers am Ende des Gedichts "Erreicht den Hof" zu "das Kind war tot". Die Qualität der Veränderung der Klangfarbe in jeder der vier Stimmen des Gedichts Erlkönig erkennt man, wenn man das Gedicht mit "Der Tod und das Mädchen" von Matthias Claudius vergleicht. Die zwei Stimmen, Tod und Mädchen, sind im Erlkönig in der Veränderung der Klangfarbe in jeder einzelnen der vier Stimmen enthalten.

Damit sind einige der Mittel aufgezeigt, welche dem Dichter eine rhythmisch-melodische strenge Komposition erlauben, um seine schöpferischen Erfahrungen und Gedankenprozesse zu vermitteln. Die Schönheit seiner Komposition entspringt der Wahrhaftigkeit seiner Gedanken und Gefühle und kann nicht durch von außen herangetragene Metrik beurteilt werden. Der aufmerksame und selbstkritische Leser wird sie auch ganz ohne derartige Hilfsmittel beurteilen und schätzen.

Fußnoten:

1) Wer sich mit dieser Frage eingehender beschäftigen möchte, sei auf Platons Kratylos-Dialog "Über die Richtigkeit der Namen" verwiesen und auf "Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache" von Gottfried Wilhelm Leibniz (1692/93).


(2) Eine grobe Vorstellung davon, was gemeint ist, kann man anhand der Form des Sonetts angedeutet werden. Das Sonett stellt in der ersten Strophe im Allgemeinen eine Idee "bildhaft" vor. In der zweiten Strophe wird die gleiche Idee tiefer gefasst oder zumindest wiederholt. In der dritten Strophe erscheint sie erneut, aber jetzt von einem neuen Blickwinkel, welcher zur "Aufhebung", d.h. erneuten Darstellung der Idee auf einer höheren Ebene in der vierten und letzten Strophe führt. Bei Heines unten (in Fußnote 5) zitierten Fresko-Sonett ist diese Entwicklung in den drei ersten mit "Ich" beginnenden Strophen deutlich zu sehen, wobei es dem Gedankenprozess beim dritten "Ich" gelingt, von sich selbst etwas hinwegzukommen, indem über offensichtlich von anderen stammende Aussagen reflektiert wird. In einem abschließenden Schritt wird die ursprüngliche Idee aufgegriffen und durch ein Paradox bestärkt. Damit ist der Rhythmus der Strophenformen gegeben. In entsprechender Weise entwickeln sich die untergeordneten Rhythmen der Zeilen.


(3) In welcher Verbindung Wahrheit und schöne Kunst stehen, hat Schiller in dem Gedicht "Die Künstler" auf unnachahmliche Weise zum Ausdruck gebracht. Die Aufgabe der Kunst ist es, so sagt Schiller dort, den Menschen "durch immer reinre Formen" und "immer schönre Schöne" zu erheben, bis er in der "Wahrheit Arme" "gleiten wird".

Die tiefliegende Identität von Schönheit und Wahrheit ist uns "aufgeklärten" Menschen heute dadurch verstellt, dass wir Wahrheit für einen völlig objektiven und Schönheit für einen rein subjektiven Begriff halten. Beides stimmt in dieser Form nicht.

Dass die subjektiv empfundene Schönheit eine absolute, gesetzmäßige Grundlage hat, kann geradezu zur Definition "klassischer Kunst" genommen werden. Dieses Absolute besteht in ihrer Verbindung zum schöpferischen, d.h. zum genialen Denken. Selbst wenn wir die einfachste Symmetrie - z.B. einer Blüte oder einer Arabeske - schön empfinden, dann ist das kein rein zufälliger, subjektiver Akt, sondern wir erfahren beim Anblick, meist unbewusst, die Entdeckung dieser symmetrischen Gesetzmäßigkeit. Ansonsten würden lediglich unsere Sinne stimuliert, etwa durch die rote Farbe der Blüte oder die extravaganten Konturen der Arabeske; ihre Schönheit empfinden wir jedoch nur, wenn in uns der "Symmetrie"-Entdeckungsakt aufleuchtet und bewirkt, dass wir das Objekt nicht nur als sich selbst, sondern zugleich als Metapher für ein lebendiges Gedankending des menschlichen Geistes sehen. Das gleiche gilt für die Schönheit des Goldenen Schnitts, der uns - wie man anhand der Fibonacci-Folge leicht sieht - intuitiv einen Wachstumsprozess erkennen lässt. Mystisch wird es, wenn das formale Verhältnis des Goldenen Schnitts verabsolutiert wird. Nicht dieses Verhältnis ist schön, sondern wir finden dieses Verhältnis immer wieder in schönen Dingen auf, weil wir nur Dinge als schön empfinden, wenn sie uns einen dem schöpferischen Denken gemäßen Entwicklungsprozess vor Augen führen.

Deswegen gibt es auch kein "Schönheitsideal", was ja eine äußerliche Schablone wäre und der Freiheit schöpferischen Denkens widerspräche. Deswegen können auch Karikaturen schön sein - man denke nur an Leonardos Studien -, wenn sie spielerisch die Grenzen von Gesetzmäßigkeiten ausloten und dadurch diese erst besonders deutlich machen. Immer dient in der klassischen Kunst der Inhalt der Form, und die Form ist nur schön, insofern sie die freie Freude schöpferischen Denkens erfahrbar macht.

Wahrheit, welche nur dem "aufgeklärten", kritischen Verstand objektiv erscheint, existiert in Wirklichkeit nicht losgelöst vom denkenden Subjekt. Wenn wir einen wissenschaftlichen Satz als "wahr" bezeichnen, dann meinen wir damit, dass er widerspruchsfrei aus einem zugrundeliegenden Axiomensystem hervorgeht. Das ist jedoch ein sehr verkürzter Begriff von Wahrheit, denn das jeweils zugrundegelegte Axiomensystem ist Ergebnis subjektiver schöpferischer, d.h. genialer Denkakte und wird immer wieder - in sogenannten wissenschaftlichen Revolutionen - verändert. Es ist somit der subjektive Prozess der Verbesserung dieser Axiomensysteme, welcher die Grundlage der richtig verstandenen Wahrheit ist. Genauso wenig wie Schönheit sich auf individuelle Erfahrung des Subjekts reduzieren lässt, ist Wahrheit etwas außer uns fixiertes, sondern sie gründet sich darin, wie sich der schöpferische Geist die Natur in immer vollständigeren Formen aneignet, so dass eine höhere Harmonie zwischen unserem subjektiven Denkprozess und den außer uns existierenden und erfahrbaren Naturabläufen eintritt.

Wahrheit und Schönheit sind nur unterschiedliche Facetten des gleichen Prozesses.


(4) Hilfreich für die Beschäftigung ist das Büchlein "Einleitung und Kommentar zu Schillers Philosophischen Gedichten" von Friedrich Albert Lange von 1912.


(5) Zum Vergleich: Das Sonett "Abend" von Andreas Gryphius und das erste von Heinrich Heines "Fresko-Sonette an Christian S."


Abend

Der schnelle Tag ist hin; die Nacht schwingt ihre Fahn'
und führt die Sterne auf. Der Menschen müde Scharen
verlassen Feld und Werk; wo Tier und Vögel waren,
traurt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!

Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
ich, du, und was man hat, und was man sieht, hinfahren.
Dies Leben kömmt mir vor als eine Rennebahn.

Lass, höchster Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten!
Lass mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten!
Dein ewig, heller Glanz sei vor und neben mir!

Lass, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen,
und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
so reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir!


I

Ich tanz nicht mit, ich räuchre nicht den Klötzen,
Die außen goldig sind, inwendig Sand;
Ich schlag nicht ein, reicht mir ein Bub die Hand,
Der heimlich mir den Namen will zerfetzen.

Ich beug mich nicht vor jenen hübschen Metzen,
Die schamlos prunken mit der eignen Schand';
Ich zieh nicht mit, wenn sich der Pöbel spannt
Vor Siegeswagen seiner eitlen Götzen.

Ich weiß es wohl, die Eiche muss erliegen,
Derweil das Rohr am Bach, durch schwankes Biegen,
In Wind und Wetter stehnbleibt, nach wie vor.

Doch sprich, wie weit bringt's wohl am End' solch Rohr?
Welch Glück! als ein Spazierstock dient's dem Stutzer,
Als Kleiderklopfer dient's dem Stiefelputzer.

(6) Lange fährt fort, indem er sagt, dass anschließend bei Schlegel, Platen und Hölderlin eine "Abnahme des Inhalts bei zunehmender Vollendung der Form" eingetreten sei. Nach dem, was ich eingangs über den Zusammenhang von Inhalt und Form gesagt habe, ist das Wort "Vollendung" hier fehl am Platz; es widerspricht auch dem von Lange selbst behaupteten Höhepunkt in der Weimarer Klassik.


(7) Die Bedeutung der Pausen, sowohl der "unhörbaren" als auch der hörbaren, wird oft verkannt. Insbesondere verstümmeln professionelle Sprecher oft poetische Texte ganz schrecklich, weil sie meinen, bestimmt Worte durch vorgelagerte Pausen betonen zu müssen. Es handelt sich dabei um eine Art professionellen Stotterns, übrigens eine Abart der rhetorischen Marotte, der "Verzögerung des ersten Wortes", welche z.B. Adolf Hitler oft aus manipulatorischen Gründen in seinen Reden anwendete. In der Tat gibt eine Pause dem nachfolgenden Wort oder Satzteil eine besondere Bedeutung, weil der Hörer durch das Abbrechen des Redeflusses gespannt wird. Wenn man sich überlegt, wie diese Betonung durch Pausen in der Umgangssprache auf ganz natürliche Weise zustande kommt, dann erkennt man auch, in welchem beschränkten Rahmen diese in der gebundener Sprache vorkommen kann. Der Grund für die Pause liegt nämlich nicht darin, dass der Sprechende bewusst etwas betonen will, sondern darin, dass er nach Worten sucht, weil er fühlt, dass er seinen Gedanken nun auf einen Begriff bringen muss, oder aber, weil er beim Sprechen von seinen Gefühlen so überwältigt ist, dass der Begriff nicht über die Lippen geht. Diese Art der Pause zur Betonung des folgenden Wortes hat demnach in der gebundenen Sprache höchstens im Dramatischen einen Platz, aber kaum im Epischen und gar nicht im Lyrischen.

Schließlich noch eine Bemerkung zum Zusammenhang zwischen rhythmischer Dynamik und Bedeutungsschwere der Worte. Es kann nämlich vorkommen, dass der Rhythmus von Gedichten durch ein mit einer kulturellen Veränderung des Selbstverständnisses einhergehenden Veränderung des Sprechverhaltens verzerrt oder ganz zerstört wird. Ein Beispiel dafür ist der Übergang von der Betonung der Verben, wie zur Zeit der Weimarer Klassik, hin zur heutigen Betonung von Substantiven, Adjektiven und Adverben. Wird ein klassischer Text in der heute üblichen Sprechgewohnheit vorgetragen zerstört man seine Dynamik und seinen Rhythmus völlig.


(8) Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten griechischen Versfüße:

Zweisilbig:

Pyrrhichius .. (kein deutsches Wort vorhanden)
Jambus .- (verbrannt, geliebt)
Trochäus -. (heilig, Liebe)
Spondeus -- (kein deutsches Wort vorhanden)


Dreisilbige:

Tribracchis ... (kein deutsches Wort vorhanden)
Molossus --- (kein deutsches Wort vorhanden)
Kretikus (Amphimacer) -.- (Leergebrannt, ungesäumt)
Amphibrachys .-. (Trompeten, erschallen)
Daktylus -.. (häßlicher, wonnige)
Anapäst ..- (überhand; sehr selten im Deutschen)
Bracchius .-- (Hinaufstieg; selten im Deutschen)
Antibracchius --. (kein deutsches Wort vorhanden)

Die Namen der viersilbigen Versfüße sparen wir uns, da sie sich jeweils aus zwei zweisilbigen zusammensetzen lassen, z.B. der Choriambus -..- (wonnebeseelt) aus Trochäus und Jambus.


(9) Siehe "A Manual on the Rudiments of Tuning and Registration", Book I, Chapter 9. Dort wird nur auf die für den Gesang so bedeutende italienische Sprache eingegangen. Das Gesagte lässt sich jedoch auch auf andere Sprachen und sogar auf Lautverschiebungen innerhalb einzelner Sprachen ausweiten, wenn man berücksichtigt, dass die Intervalle der Vokale ein harmonisches System bilden.


(10) Übrigens legen die beiden letzten Zeilen dieses Gedichtes ein deutliches Zeugnis ab, dass jeder Vortrag ohne offenes Herz für den wirklichen Inhalt scheitern muss. Sie gelingen nur, wenn der Vortragende selbst die christliche Gewissheit an die beste aller Welten, genauso wie der Schlossherr in dieser Situation, für sich selbst realisieren kann; ansonsten wird er sich in der vorletzten Zeile in einen langweiligen Stoizismus retten oder in der letzten Zeile in völlig überflüssiger Aufregung nach den rächenden Erinnyen rufen.

ANHANG:

I.

Folgende Zitate sind aus dem Aufsatz: "Die griechischen Formen und Maße in der deutschen Dichtung" von A. Lange (Deutsche Rundschau)

Lange erklärt einleitend, er untersuche diese Frage, "weil hier die culturhistorische und die ästhetische Betrachtung in unmittelbare Verbindung treten mit der Frage nach der Zukunft der Poesie und dem bleibenden Wesen aller Formen in der Dichtung."

Lange betont die Verrohung der deutschen Sprache und Kultur nach dem Dreißigjährigen Kriege und wie schnell der hohe Standard von Lessing, Schiller und Goethe erreicht wurde. Man sieht daraus, "daß es mächtige Hebel gewesen sein müssen, die einen so großartigen Umschwung hervorbrachten. Zwei derselben fallen uns besonders in die Augen: die Reform der Erziehung und der Einfluß der Poesie." Bezüglich der Erziehung scheinen ihm weniger die "von Rousseau und Basedow ausgehende Bewegung" entscheidend, sondern der Humanismus, denn "er fügte dem realistischen Strome der Zeit einen idealen Zug bei, der sich ganz besonders in der lebhaften Verwerthung der classischen Dichter und der stärkeren Hervorhebung des Griechischen gegenüber dem Lateinischen aussprach." So kam es, daß "Ende des 18. Jahrhunderts... Homer durch die Vossische Übersetzung zu einem deutschen Volksbuch geworden war,.."

"In den dreißige und vierziger Jahren (des 18. Jhd.)... wurden die Philologen und Polyhistoriker poetisch. Die Vorliebe für die Dichter Roms und Griechenlands verband sich mit der Nachahmung der Franzosen, von denen man sich auf diesem Gebiet mit Schmerz übertroffen fühlte."

"Die deutsche Verskunst der damaligen Zeit besaß nämlich zwei Hauptmittel, die Gedichte unausstehlich langweilig zu machen: das Verbot dichterischer Umstellungen in der Wortfolge, und das Verbot eines jeden Gegensatzes von Wortaccent und Versaccent. Die Züricher Kritiker (gegen Gottsched) hatten nun ganz richtig bemerkt, daß andere Nationen, und vorab die Franzosen, an ihrer größeren Freiheit in der Behandlung der Wortstellung und des Accentes ein Mittel besitzen, ihren Versen eine ungemeine Mannigfaltigkeit zu geben; daß z.B. ein französischer Alexandriner, bei dem man meinte, bloß die Silben gezählt und die Accente nach dem Gehör und Geschmack des Dichters völlig frei vertheilt werden, ganz etwas Andres sei, als ein deutscher Alexandriner mit seinem regelmäßigen Geklapper gleichförmiger Hebungen und Senkungen."

"Wir könnten nun meinen, bei diesen Betrachtungen hätte sich der einfache Schluß ergeben, daß jene Regeln, welche dem deutschen Verse gleichsam seine Langweiligkeit verbrieften und verbürgten, über Bord zu werfen seien und daß man statt dessen versuchen möge, wie weit man auf freieren Bahnen mit den alten gereimten Versformen und Strophen, aber ohne jene Regeln gelangen könne. Man hätte dann mit einem Schlage da anlangen können, wo später ein Eichendorff, Goethe und Heinrich Heine standen. Das deutsche Volkslied hätte damals so gut wie später die Wege weisen können, wenn man Sinn und Verständnis dafür gehabt hätte."

"Statt dessen wurde ein ganz anderer Weg eingeschlagen; ein Weg, der, von diesem Standpunkt aus betrachtet, wie ein Abweg erscheint, der aber in der gesammten Culturentwicklung Deutschlands sich jetzt als ein wichtiger, ja unentbehrlicher Factor herausstellt."

"Breitinger machte in seiner 1740 erschienenen "kritischen Dichtkunst" in der That den Versuch, einer von der Prosa abweichende Wortstellung zu ihrem Recht zu verhelfen; an die freie Behandlung des Accente dagegen wagt er sich nicht... Eine andre Behandlung der Accente hielt man damals geradezu für unvereinbar mit der Natur der deutschen Sprache."

"Sie (die Schweizer Breitinger und Bodmer) vertheidigten wiederholt den reimlosen Vers, besonders den fünffüßigen Jambus Miltons und den elfsilbigen Vers der Italiener; aber für das Deutsche bot ihnen auch dieses Maß immer noch nicht Abwechslung genung; eben wegen jenes Vorurtheils von der nötigen Überienstimmung zwischen Wortaccent und Versaccent. Hier bot sich nun der Hexameter dar, der durch seine Abwechslung zwischen Spondeen und Daktylen, durch die ruhige Breite seiner großen Silbenzahl und das freie Überfließen des Sinns aus einem Vers in den andern auch dem deutschen Dichter die nöthige Abwechslung zu bieten schien."

"Man kann daraus sehen, wie der Boden nach allen Seiten vorbereitet war, um dem großen Wurf des Klopstock'schen Messias auch nach dieser Seite seinen Erfolg zu sichern."

Lange beschreibt nun, wie das "deutsche Ohr" durch "den Gebrauch der antiken Formen" in der Poesie "gebildet" wurde. Lessing habe die Verwendng des Hexameters erst abgelehnt, da man sich nun die Fesseln nur von den Füßen an die Hände lege und dennoch trage.

"Wie ganz anders klingt es dann aber in den Literaturbriefen von 1759! Hier sucht Lessing dem Messias in jeder hinsich gerecht zu werden... Ja, Lessing gibt uns sogar den ersten Versuch einer Geschichte des deutschen Hexameters nebst sehr interessanten Mittheilungen über den Gebrauch des Hexameters im der englischen Sprache..."

Später im Text macht Lange folgende Bemerkung: "Wir haben gesehen, wie Klopstocks Auftreten den Zwang der Opitz'schen Regel (Wortakzent gleich Versakzent) brach. Zwar meinte der junge Lessing anfangs, man habe sich die Ketten nur vom Fuß an die Hände gelegt, aber man muß bedenken, daß für die echte Kunst auch in Poesie und Prosa der Zwang selbst zur höchsten Freiheit wird, sobald die Norm rein aus den natürlichen Bedingungen der ästhetischen Wirkung geschöpft wird. Nun war dies freilich auch mit Klopstocks Maßen noch keineswegs der Fall, und insofern hatte Lessing recht; aber Klopstock's Maße in ihrem Gegensatz und in ihrer Zusammenwirkung mit der Überlieferung mußten dahin führen. Dies wußte freilich Klopstock selbst so wenig, wie Lessing; es ist wieder ein solcher Zug der Entwicklung, der uns, objectiv betrachtet, in seiner vollen Nothwendigkeit klar wird, während er durch Motive zu Stande kommt, die zunächst auf etwas ganz Anderes ausgehen."

"Erst im Todesjahr Lessings, 1781, erschien dann das epochemachende Werk, durch welches die Einbürgerung des Hexameters unter den deutschen Versmaßen für immer entschieden wurde: die Übersetzung von Homers Odyssee durch Johann Heinrich Voß... Schiller.., läuterte an Vossens Homer, den er wieder und wieder las, seine Auffassung des Hellenischen von den falsche Zuthaten, die ihm vom Lesen französischer Übersetzungen anhafteten;.. Goethe, der nur Widerstrebend bei Voß in die Schule ging,.. kam endlich dahin, nicht nur die beste populärste Bearbeitung des Reinecke Fuchs in Hexametern zu geben, sondern im Jdyll seinen Meister zu überflügeln (Hermann und Dorothea)."

"Alles in Allem genommen kann man wohl sagen, daß in diesen Distichen (Römische Elegie von Goethe) und vielleicht in Schillers Spaziergang die deutsche Poesie in griechischen Formen ihren Höhepunkt erreicht habe;.."

Lange stellte daran anschließend eine "Abnahme des Inhalts bei zunehmender Vollendung der Form" fest (Schlegen, Platen, Hölderlin).

Wichtig ist noch Langes Hinweis auf das Unmögliche an Platens Versuch Pindars Hymnenform zu übertragen: "Wir wissen jetzt hinlänglich,.. daß und überhaupt auf diesem Felde nicht Anderes übrig bleibt, als buchstäbliche Nachahmung.., und zwar aus dem einfachen Grunde, weil wir die Musik der Alten zu wenig kennen, und wiel die lyrische Composition der Alten von der musikalischen völlig beherrscht wunde." Dieser Bezug auf die Musik ergänzt sich mit dem, was abschließend über die Bedeutung des deutschen Volksliedes in Bezug auf Heine gesagt wird.

"Wir haben gesehen, wie auch Klopstock, ganz in Übereinstimmung mit der Theorie seiner Züricher Freunde, das Accentprinzip beibehielt; wie aber, sobald man erst überhaupt die griechischen Maße anwandte, das Gehör sich sein Recht verschaffte und der Quantität, wenn nicht über, so doch neben dem Wortaccent Geltung gab. Wenn wir keinen anderen Beweis hierfür hätten, als die Correcturen, welche Klopstock, Voß und Schiller bei jeder neuen Bearbeitung an ihren eigenen Versen anbrachten, so würde doch diese allein genügen, uns zu zeigen, wie jetzt das Gehör über die selbstgemachte Regel das Übergewicht gewann."

"Aber auch der Gegensatz von Wortaccent und Versaccent, jene Freiheit in der Verteilung der Accente auf den Vers, um welche Breitinger die Franzosen beneidet hatte, fand sich jetzt ein. Gerade weil man sie im Deutschen für unmöglich hielt, war man auf den abwechslungsvollen Hexameter verfallen und eben dieser Hexameter sollte die Deutschen lehren, auch den fünffüßigen Jambus und die lyrischen Maße mit der vollen Freiheit der Franzosen und der Engländer zu handhaben..."

"Nirgends aber wird uns der enge Zusammenhang zwischen der spielenden Freiheit echter Poesie und der rhythmischen Bildung des Gehörs so klar, als wenn wir jene tief empfundenen deutschen Lieder betrachten, die mit anscheinend völliger Willkür, fast nachlässig ihre Jamben und Anapäste wechseln lassen. Diese Lieder, wie sie nach Goethe's Versgang mit größter Meisterschaft von Platen's Antipoden und Widersacher Heinrich Heine ausgebildet wurden, stehen allerdings zu den kalten Odenmaßen Klopstocks und Platens im schroffsten Gegensatz, und doch hätte man sie vor Klopstocks Zeiten weder zu schätzen noch mit wahrem Ausdruck zu lesen gewußt. Das Volkslied erhielt sich in seiner Freiheit durch die Musik; aber die größere Übung des Ohres für den Rhythmus der gesprochenen Wortes gibt uns heute eine Musik der bloßen Rede, die der Gottsched'schen Zeit fremd war..."


II.

Folgendes ist eine Zusammenfassung und Zitate aus Eduard Sievers "Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen Sprechverses", veröffentlicht in "Germansiche Bibliothek" unter fünfter Band "Rhythmisch-melodische Studien" 1912. Sievers wurde 1850 in Lippodsverb (Hessen) geboren und starb 1932 in Leipzig. Als eine besondere Leistung gilt, dass er die Grundlagen für die Gesamtdarstellung der germanischen Sprachen gelegt hat und das auf dieser Grundlage wissenschaftlich erkennbare Klanggefüge zur Stil- und Textkritik nutzbar machte.

"Ein jedes Kunstwerk, auch das poetische, wirkt zunächst in seiner Totalität als eine in sich geschlossene Einheit... Damit ist zugleich gesagt, daß die altherkömmliche Auffassung, der Metrik als Lehre von den Zeitmaßen der gebunden Rede viel zu eng und einseitig ist... Die wissenschaftliche Metrik hat vielmehr ALLES in ihren Bereich zu ziehen, was dazu beträgt, der Lautform der gebunden Rede ihren Kunstcharakter zu verleihen..."

"Als oberstes Gesetz für den Metriker dürfen wir es danach wohl bezeichnen, daß er bei seiner Analyse der Form doch nie den Inhalt außer acht lasse, daß er nie mit bloßen Schemen operiere, sondern mit lebendigen Teilen des Kunstwerks selbst, dem diese Schemen zukommen... Der Metriker (wird) zu zeigen haben, wie das in sich geschlossene Kunstwerk weiterhin gegliedert ist, und wie gerade in der kunstvollen Gliederung und kunstvollen Bildung der Glieder ein wesentliches Moment der Wirkung besteht."

"Hierbei tritt nun eine eigentümliche Schwierigkeit gerade dem Metriker hemmend in den Weg... In der Regel wirkt das Dichtwerk durch eine schriftliche Überlieferung hindurch, die doch nur ein kümmerliches Surrogat für das lebendige Wort gelten kann. Um voll wirken zu können, muß das in der Schrift erstarrte Dichtwerk erst durch mündliche Interpretation, durch Vortrag wieder in Leben zurückgerufen werden... Ich meine hiernach, man habe ein gutes Recht, an den Metriker die Forderung zu stellen, daß er selbst erst richtig vortragen lerne, ehe er seine theoretische Zergliederung beginnt..."

"Wie verhält sich der RHYTHMUS des gesprochenen Verses zum Gesangsrhythmus? Um diese erste Frage richtig beantworten zu können, muß man sich zunächst von den überlieferten Vorstellungen freimachen, die aus der hergebrachten Bezeichnungsweise des sog. MUSIKALISCHEN TAKTES geflossen sind. Unser Taktstrich schneidet im Prinzip weder rhythmische noch melodische Teilstücke aus; er dient also weder der rhythmischen noch der melodischen Gliederung, sondern nur der abstrakten Zeitmessung,...(er ist ein praktisches Hilfsmitten für die richtige Zeiteinhaltung beim Vortrag). Eine rhythmische oder melodische Gruppe oder Figur aber entsteht dadurch, daß man eine Reihe von Einzelschällen (Noten bwz. Gesangssilben) dadurch zu einer höheren Einheit bindet, daß man sie mit EINEM gemeinschaftlichem Willensimpuls hervorbringt... Der musikalische Takt, bzw. die Rhythmusgruppe im Gesang baut sich aus einer bestimmten Anzahl ideeller Zeiteinheiten auf, die man beim Taktschlagen markieren kann... Der Sprechvers kennt nur die Fußteilung: innerhalb der Füße ist die Zeitteilung frei, sie richtet sich nach der natürlichen Qualität der einzelnen Silben (die wieder mannigfaltig variiert sein kann, je nach Nachdruck und Betonung) und deren Anzahl."

Sievers entwickelt, daß im Gegensatz zum Gesangsvers (und noch mehr zur Instrumentalmusik) der Sprachvers sich gerade durch den RHYTHMUSWECHSEL auszeichnet. Sievers behandelt folgendes Beispiel, bei dem nach den ersten drei Zeilen ein Rhythmuswechsel vom steigenden zum fallenden Rhythmus in der letzen Zeile auftritt. Das Wort "und" am Beginn der letzten Zeile ist dadurch ein echter AUFTAKT, während die ersten Worte der drei Anfangszeilen EINGANGSSENKUNGEN der steigenden Versfüße sind.

Es SA-/ßen beim SCHÄU-/menden, FUN-/kelnden WEIN
Drei FRÖH-/liche BUR-/schen und SAN-/gen;
Es SCHALL-/te und BRAUS-/te das JU-/belLIED,
Und / LUSTig die / BEcher er-/KLANgen.

Sievers betont, bezogen auf steigende und fallende Rhythmen folgendes: "Die verschiedene Bindung ändert sich - und das ist für den Charakter der verschiedenen Rhythmusgruppen sehr wesentlich - nicht nur die Gruppierung der Zeiteinheiten bzw. der zu ihrer Ausfüllung dienenden Schälle, sondern auch deren dynamisches Verhältnis zueinander. Ein fallender Takt ist durchgehend fallend, d.h. es nimmt auch die Hebung... an dem allgemeinen Decrescendo teil... Umgekehrt beim steigendend... Takt: hier bleibt die Hebung bis zu ihrem Schluß mindestens auf gleicher Stärkestufe stehen, sie hebt sich dadurch kräfiger von der folgenden Senkung ab..."

Sievers geht auch auf die INNERE GLIEDERUNG der rhythmischen Gruppen ein. Er unterschieded den MONOPODISCHEN (oder PODISCHEN) Versfuß vom DIPODISCHEN. "Im podischen Vers sind alle einfachen Ryhthmusgruppen oder 'Füße' im Prinzip koordiniert, ihr Nachdruck wechselt daher nicht nach bestimmten rhythmischen Verhältnissen, sondern lediglich nach den etwaigen Abstufungen des Sinnesakzents; im dipodischen Vers sind je zwei Füße derart zu einer Einheit verbunden, daß der eine dem andern im Nachdruck untergeordnet ist. Man vergleiche etwa Verse wie

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht?

mit solchen wie

Sah ein Knab' ein Röslein sthen,
Röslein auf der Heiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah's mit vielen Freuden,...

Man kann hier zugleich deutlich beobachten, wie bei der rhythmischen Dipodie, die minder betonten Füße auch an Zeitmaß hinter den voll betonten zurücktreten, die sich auf ihre Kosten etwas ausdehnen... Wie man sieht, hängt die verschiedene Art der Bindung im Sprechvers wesentlich vom Sinnakzent ab, und darauf beruht nun wiederum zum großen Teil die ganz verschiedene Wirkung podischer und dipodischer Verse."

"Wie aber steht es mit der MELODIE DES SPRECHVERSES? Zwei Hauptunterschiede fallen sofort ins Auge: dem Sprechvers fehlen die festen Töne des Gesangs... und es fehlen ihm die festen Melodien mit gleichmäßiger Wiederholung an korrespondierenden Stellen....Der Komponist bildet also seine Melodie fest nach frei gegebenen Tonhöhen und Intervallen, dem Dichter des Sprechverses stehen nur die feste Tonhöhe und Intervalle der empirischen Sprache zu Gebote, aber über diese kann er auch um so freier verfügen. Das ist aber um so wichtiger für die Ausdrucksfähigkeit des Sprechverses, als in der freien Rede gerade Wechseln der Stimmlage einerseits und Wechsel der Intervallgröße andererseits zum Ausdruck verschiedenartiger Stimmungen dienen..."

"Hängt nun, wie wir gesehen haben, die Melodieführung des Sprechverses von dem melodischen Teil des Satz- oder Sinnesakzent ab, so ist andererseits in Literaturen, die, wie die germanische, 'akzentuierte Verse' bauen, d.h. einen Zusammenhang von Sinnakzent und Versbetonung verlangen, auch der Rhythmus wesentlich an den Satz- oder Sinnesakzent gebunden, insbesondere nach der dynamischen Seite hin. Und darin liegt eine Quelle der Formschönheit: denn die vollendetste Wirkung muß doch da erzielt werden, wo das, was dem Sinne nach hervortreten muß, auch im Verse an hervorragender Stelle erscheint, und umgekehrt. Zugleich aber bietet der im Deutschen stark hervortretende Parallelismus zwischen Satzmelodie und dynamischer Satzbetonung uns ein Mittel dar, die verschiedenen Hauptarten der Melodieführung im Sprechvers in Anknüpfung an die oben geschilderten rhythmischen Hauptarten der Versbildung zu klassifizieren. Insbesondere kommt dabei der altbekannte Satz zur Anwendung, daß IN DER MUSTERGÜLTIGEN DEUTSCHEN AUSSPRACHE DIE STARKTONSILBEN HÖHER IN DER SKALA ZU LIEGEN PFLEGEN ALS SCHWÄCHERE."

Abschließend erwähnt Sievers, wohl um den Zusammenhang ovn Rhythmus und Sprachmelodie nochmals hervorzuheben Goethes Gedicht "Der Fischer". "Endlich möchte ich noch auf eine eigentümliche Versart aufmerksam machen, die der Melodie nach diposisch bebaut ist, d.h. je eine höhere und eine tiefere Note miteinander bindet, aber doch von der rhythmischen Dipodie deutlich geschieden ist. Sie entsteht da, wo die schwächeren Hebungen, die in regelmäßiger Gruppierung mit stärkeren Hebungen paarweise gebunden sind, mindestens zum größeren Teil auf sinnvollere Wörter fallen."


III.

Aus "Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache" von Gottfried Wilhelm Leibniz (1692/93).

...

40. Und weil die Deutschen sich über alle anderen Nationen in den Wirklichkeiten der Natur und Kunst so vortrefflich erwiesen, so würde ein deutsches Werk der Kunstworte einen rechten Schatz guter Nachrichten in sich bebreifen und sinnreichen Personen, denen es bisher an solcher Kunde gemangelt, oft Gelegenheit zu schönen Gedanken und Erfindungen geben. Denn weil die Worte den Sachen antworten, kann es nicht fehlen: es muß die Erläuterung ungewöhnlicher Worte auch die Erkenntnis unbekannter Sachen mit sich bringen.

...

42. Es ist handgreiflich und zugestanden, daß die Franzosen, Welchen und Spanier (der Engländer, so halb Deutsch, zu geschweigen) sehr viele Worte von den Deutschen haben und also den Ursprung ihrer Sprachen guten Teils bei uns suchen müssen. Es gibt also die Untersuchung der deutschen Sprache nicht nur ein Licht für uns, sondern auch für ganz Europa, welches unserer Sprache zu nicht geringem Lob gereicht.

43. Ja, noch mehr, es findet sich, daß die alten Gallier, Kelten und auch Skyten mit den Deutschen eine große Gemeinschaft gehabt, und weil Welschland seine ältesten Einwohner nicht zur See, sondern zu Lande, nämlich von den deutschen und keltischen Völkern über die Alpen herbekommen, so folgt, daß die lateinische Sprache den uralten Deutschen eine Großes schuldig, wie sich's auch in der Tat befindet.


44. Und obzwar die Lateiner das übrige von den griechischen Kolonien bekommen haben mögen, so haben doch sehr gelehrte Leute auch außer Deutschland wohl erwogen, daß es vorher mit Griechenland eben wie mit Italien zugegangen; mithin die ersten Bewohner desselbigen von der Donau und den angrenzenden Landen hergekommen, mit denen sich hernach Kolonien über Meer aus Kleinasien, Ägypten und Phönizien vermischt; und weil die Deutschen vor alters unter dem Namen der Goten oder auch nach etlicher Meinung der Geten, und wenigstens der Bastarnen, gegen den Ausfluß der Donau und ferner am Schwarzen Meer gewohnt und zu gewisser Zeit die jetzt genannte kleine Tartarei innegehabt und sich fast bis an die Wolga erstreckt, so ist kein Wunder, daß deutsche Worte nicht nur im Griechischen so häufig erscheinen, sondern bis in die persische Sprache gedrungen, wie von vielen gelehrten bemerkt worden...

45. Alles auch, was die Schweden, Norweger und Isländer von ihren Goten und Runen rühmen, ist unser, und arbeiten sie sich mit aller ihrer löblichen Mühe für uns; zumal sie ja für nichts anderes als Norddeutsche gehalten werden können, auch von dem wohlberichteten Tacitus und allen alten und mittelalten Autoren unter die Deutschen gezählt worden; mit ihrer Sprache legen sie auch selbst nichts anderes zutage, sie mögen sich krümmen und wenden wie sie wollen. Daß auch die Dänen zu Zeiten der Römer bei dem abnehmenden Reich unter dem Namen der Sachsen begriffen gewesen, kann ich aus vielen Umständen schließen.

46. Es steckt also im deutschen Atlertum und sonderlich in der deutschen uralten Sprache, so über das Alter aller griechischen und lateinischen Bücher hinaufsteigt, der Ursprung der europäischen Völker und Sprachen, auch zum Teil des uralten Gottesdienstes, der Sitten, Rechte und des Adels, auch oft der alten Namen der Sachen, Orte und Leute, wie solches teils von anderen dargetan und teils mit mehrerern auszuführen.

...


48. ... Es finden sich aber auch täglich bei uns selbst in der Sprache allerhand erläuterungswürdige Dinge und Anmerkungen, so Gelegenheit zu sonderlichem Nachdenken geben.


49. Zum Exempel, wenn man fragt, was WELT im Deutschen sagen wolle, so muß man betrachen, daß die Verfahren gesagt: WERLET, wie sich's noch in alten Büchern und Liedern findet, daraus erschient, daß es nichts anderes sei als Umkreis der Erden oder orbis terrarum. Denn WIRREN, WERREN (WIRE bei den Engländern, GYRUS bei den Griechen) bedeutet, was in die Runde sich herum zieht. Und es scheint, die Wurzel stecke im Deutschen Buchstaben W, der ein sanftes Sausen und Brausen in sich hat, dergleichen von einem solchen wirbelhaften Umdrehen und anderer freier Bewegung, so ab- und zugeht, verursacht wird, als bei WEHEN, WIND, WAAGE, WOGEN, WELLEN, WHEEL oder RAD. Daher auch nicht nur WIRBEL, GEWERREL oder QUERL, auch wohl QUERN (so im Altdeutschen eine Mühle bedeutet, wie an QUERHAMELN zu erkennen), sondern auch BEWEGEN, WINDEN, WENDEN, das Französische VIS (als: VIS SANS FIN, Schraube ohne Ende), auch WELLE, WALZE, das lateinische VOLVO und VERTO, VORTEX, ja der Name der WALEN, WALLONEN oder Herumwallenden (das ist der Gallier oder Fremden), WILD (das ist fremd, davon WILDFREMD, WILDFANSRECHT etc.), von diesem aber WALD und anderes mehr entstanden. Doch will man mit denen nicht streiten, die das Wort WERELD von WŽHREN oder dauern herführen und darunter SAECULUM (von alters: EW) verstehen. Weil diese Dinge ohne genugsame Untersuchung zu keiner völligen Gewißheit zu bringen und die alten deutschen Bücher den Ausschlag geben müssen.


50. Dergleichen Exempel sind nicht wenige vorhanden, so nicht allein der Dinge Ursprung entdecken, sondern auch zu erkennen geben, daß die Worte nicht eben so willkürlich oder von ungefähr hervorkommen, als einige vermeinen; wie denn nichts ungefähr in der Welt als nach unserer Unwissenheit, wenn uns die Ursachen verborgen. Und weil die deutsche Sprach vor vielen anderen dem Ursprung sich zu nähern scheint, so sind auch die Grundwurzeln in derselben desto besser zu erkennen...

IV.

Zur Bedeutung der Verben in der klassischen Poesie

Der Sprachrhythmus hängt sehr stark von dem in dem sprachlich zum Ausdruck kommenden Selbstverständnis hab. Orientiert sich ein Mensch mehr am "Haben" wird er Substantive stärker betonen, orientiert er sich am "Sein", werden die Verben hervortreten. Wenn Goethe z.B. die Schauspieler seiner Zeit anweist, nicht immer die Verben zu betonen, so belegt das, dass damals diese Tendenz bestand, während heute üblicherweise die Substantive betont werden, oder gar die Adjektive und Adverbien. Dadurch ergibt sich eine rhythmische Verschiebung der Texte. Diesen Einfluss auf die Dynamik wollen wir anhand eines kurzen Stücks aus Schillers Lied von der Glocke verdeutlichen.

1) Verben betont (GROSSBUCHSTABEN)

Flackernd STEIGT die Feuersäule,
Durch der Straße lange Zeile
WÄCHST es fort mit Windeseile,
Kochend wie aus Ofens Rachen
GLÜHN die Lüfte, Balken KRACHEN,
Pfosten STÜRZEN, Fenster KLIRREN,
Kinder JAMMERN, Mütter IRREN,
Tiere WIMMERN
Unter Trümmern,
Alles RENNET, RETTET, FLÜCHTET,
Taghell ist die Nacht gelichtet,
Durch der Hände lange Kette
Um die Wette
FLIEGT der Eimer, hoch im Bogen
SPRITZEN Quellen, Wasserwogen.
Heulend KOMMT der Sturm geflogen,
Der die Flamme brausend SUCHT.
Prasselnd in die dürre Frucht
FÄLLT sie, in des Speichers Räume,
In der Sparren dürre Bäume,
Und als wollte sie im Wehen
Mit sich fort der Erde Wucht
REISSEN, in gewaltger Flucht,
WÄCHST sie in des Himmels Höhen
Riesengroß!

Hoffnungslos
WEICHT der Mensch der Götterstärke,
Müßig SIEHT er seine Werke
Und bewundernd UNTERGEHN.

2) Substantive (und Adjektive bzw. Adverbien) betont (GROSSBUCHSTABEN)

FLACKERND steigt die FEUERSÄULE,
Durch der STRASSEN lange ZEILE
Wächst es fort mit WINDESEILE,
KOCHEND wie aus OFENS RACHEN
Glühn die LÜFTE, BALKEN krachen,
PFOSTEN stürzen, FENSTER klirren,
KINDER jammern, MÜTTER irren,
TIERE wimmern
Unter TRÜMMERN,
Alles rennet, rettet, flüchtet,
TAGHELL ist die NACHT gelichtet,
Durch der HÄNDE lange KETTE
Um die WETTE
Fliegt der EIMER, HOCH im BOGEN
Spritzen QUELLEN, WASSERWOGEN.
Heulend kommt der STURM geflogen,
Der die FLAMME brausend sucht.
Prasselnd in die dürre FRUCHT
Fällt sie, in des Speichers RÄUME,
In der SPARREN dürre BÄUME,
Und als wollte sie im Wehen
Mit sich fort der ERDE WUCHT
Reißen, in GEWALTGER FLUCHT,
Wächst sie in des HIMMELS HÖHEN
RIESENGROSS!

HOFFNUNGSLOS
Weicht der Mensch der GÖTTERSTÄRKE,
MÜSSIG sieht er seine WERKE
Und BEWUNDERND untergehn.

Man spreche beide Versionen laut und vergleiche die Wirkung.

V.

Die folgenden Zitate aus "Johannes Brahms als Mensch, Lehrer und Künstler" von Gustav Jenner (Elwert'sche Verlagsbuchhandlung, Marburg, 1930)sind zwar bezogen auf die musikalische strenge Komposition, ihre Bedeutung für die Poesie sind jedoch so offensichtlich, dass sie keines weiteren Kommentars bedürfen. Wenn von "er" die Rede ist, dann ist das natürlich Brahms:

Wenn er ein Lied mit mir besprach, so wurde zunächst untersucht, ob die musikalische Form auch durchaus dem Text entspräche. Fehler nach dieser Richtung rügte er besonders scharf als Mangel an Kunstverstand oder Folge nicht genügender Durchdringung des Textes. Im allgemeinen forderte er, daß wenn der Text die strophische Behandlung zuließe, diese auch zur Anwendung kommen müsse. Um sich klar darüber zu werden, welche Texte strophisch zu behandeln seien, und welche nicht, empfahl er genaues Studium sämtlicher Lieder Franz Schuberts, dessen scharfen Kunstverstand in diesen Dingen auch in seinen unscheinbarsten Lieder sich offenbare: "Es gibt kein Lied von Schubert, aus dem man nicht etwas lernen kann."

Allgemeingültiges über diesen Punkt vorzubringen, ist sehr schwer.

So ist es beispielsweise keineswegs erschöpfend zu sagen, daß, wenn in einem strophisch gebauten Lied-Text eine Grundstimmung in allen Einzelheiten oder noch so verschiedenen Bildern festgehalten wird, hier die strophische Kompositionsbehandlung allein am Platz sei. Denn wie sie auch bei anderen Texten, wo dieses nicht zutrifft, als für den Text passender musikalischer Ausdruck erscheinen kann, so können andererseits oft Einzelheiten, scheinbare Kleinigkeiten, selbst Äußerlichkeiten einer strophischen Behandlung hinderlich, ja unbesieglich im Wege stehen, abgesehen von dem Fall, wo Form und Gehalt die musikalisch Loslösung von der metrischen Strophe gebieterisch fordert. Auch ist des sicher, daß die weite, unerschöpfliche Welt des musikalischen Rhythmus dem Komponisten durch unendlich reichere Mittel das ersetzt, was dem Dichter die Strophe ist: aner an richtiger Stelle angewendet, aus genügender Tiefe geschöpft und mit vollendeter Kunst ausgeführt wird sich das musikalische Strophenlied einer freien Behandlung desselben Textes in der Wirkung stets überlegen zeigen. Wenn man den oben zitierten Brahmsschen Ausspruch: "Meine kleinen Lieder sind mir lieber als meine großen" in dem Lichte dieser allgemeinen Betrachtungen sieht und sich Brahms' Lieder vergegenwärtigt, so wird der Sinn klar werden.

Die strengste Form des musikalischen Strophenliedes ist diejenige, in der dieselbe Melodie für die einzelnen Strophen des Dichters mit gleichbleibender Begleitung wiederkehrt, wie unzählige Male bei Schubert, Schumann, Brahms u.a. Eines der herrlichsten Beispiel, nur mit der Freiheit einer einmal am Anfang auftretenden Einleitung, ist die "Nähe der Geliebten", eines der schönsten deutschen Lieder von Goethe und Schubert, ein Lied aus Sehnsucht geboren in Wort und Ton. Angesichts dieses Liedes ist es unerquicklich sich auszumalen, wie wohl einer jener unverständigen Verfasser sogenannter Lieder, verführt von der Bilderfülle des Textes, dieses Gedicht musikalisch verarbeiten könnte! Welches Theater würden wir gerade hier erleben! Schubert schrieb zu diesem Text eine einfache Melodie im Umfang weniger Takte. Aber der irrt sehr, der meint, diese Melodie sei etwa die Komposition der ersten Strophe des Goetheschen Gedichtes, nach der nun auch die übrigen "abgesungen" werden können. O nein, diese Melodie ist aus derselben tiefen, einheitlichen Empfindung hervorgequollen, der die mannigfaltigen und doch nur das eine immer neu sagenden Bilder des Dichters entströmen. Sie ist ein musikalischer Ausdruck dessen, was das ganze Gedicht als Eindruck im Komponisten zurückließ, und so kommt es, daß sie zu jeder Strophe, wie stets bei Schubert, voller erglüht und neues zu sagen scheint, weil mit dem neuen Texte die Grundempfindung immer deutlicher und intensiver zum Ausdruck kommt. Freilich gehört dazu, daß durch die Kunst des Musikers die Melodie sich dem einzelnen Worten in den verschiedenen Strophen des Textes geschmeidig fügt, daß hier keine Dissonanzen entstehen, die das Ganze empfindlich stören...

Brahms verlangte vom Komponisten zunächst, daß er seinen Text genau kenne. Darunter verstand er natürlich auch, daß ihm Bau und Metrum des Gedichtes durchaus klar sei. Sodann empfahl er mir, ein Gedicht vor der Komposition lange im Kopfe mit mir herumzutragen und es mir selbst öfter laut vorzurezitieren, hierbei auf alles, namentlich was die Deklamation angehe, genau zu achten, besonders auch die Pausen anzumerken und nachher bei der Arbeit einzuhalten...

Da, wo in der Sprache Interpunktionen gesetzt werden, stehen im musikalischen Satz Kadenzen; und wie der Dichter seine Sätze durch sinnvollen Bau mehr oder weniger fest ineinander fügt und als äußere Zeichen Komma, Semikolon, Punkt usw. anwendet, so stehen dem Musiker unvollkommene und vollkommene Kadenzen in mannigfaltiger Form ebenfalls als Gradunterschiede für den mehr oder weniger festen Zusammenhang seiner musikalischen Perioden zur Verfügung. Die Wichtigkeit der Kadenzen ist daher ohne weiteres einleuchtend, denn durch sie werden der Bau sowohl wie die Proportionen der einzelnen Teile bestimmt; und auf sie lenkte daher auch Brahms meine besondere Aufmerksamkeit...

Eine einheitliche Modulation schließt nun keineswegs die Anwendung auch der entferndesten Tonart aus. Ganz im Gegenteil werden diese entfernten Tonarten erst dadurch entfernte, daß eine andere die herrschende ist; sie bekommen dadurch erst wahre Ausdruckskraft; sie sagen etwas anderes; sie sind wie Farben eines Bildes, die sich von der Grundfarbe loslösen, durch die sie gebunden sowohl wie gehoben werden...

Durch die Variation hat sich die Instrumentalmusik zuerst von den Banden der Vokalmusik und ihren Formen frei gemacht; durch die Variation ist sie zu einem selbstständigen, instrumentalen Stil gelangt. Es gibt keine instrumentale Form, in der die Variation nicht ihr Wesen triebe; kein großer Meister der Instrumentalmusik, der sie nicht intensiv gepflegt hätte. Aber ihre Bedeutung reicht weiter: denn ihr Wesen hängt aufs engste zusammen mit dem Wesen aller Dinge in Kunst und Natur. Was ist die Formenfülle der Erscheinungswelt anderes als eine Variation des einen großen geheimnisvollen Themas: Leben? War es Goethes schöner Traum, jene eine Urpflanze zu finden, aus der sich alle anderen entwickelt hätten? Variieren aber heißt entwickeln; und was tut der Künstler im Grunde anderes als entwickeln? In keiner Kunst aber kommt der Geist der Natur so rein und konzentriert, so losgelöst von aller Form der Erscheinungswelt, zum Ausdruck, als in der Musik, und speziell in der Instrumentalmusik. Ihr Reich beginnt erst jenseits der Welt der Erscheinung, da, wo das Reich der übrigen Künste, die am körperlichen enger haften, aufhört...

Es scheint selbstverständlich, daß ein junger Musiker vor allem zu musikalischem Denken und Fühlen erzogen werde, daß er von Grund aus das seiner Kunst Eigentümliche begreifen lerne, doch wird es in der Praxis keineswegs anerkannt. So z.B. muß es lernen, daß eine Zusammenstoppelung von Themen nicht etwa kontrapunktische Meisterschaft ist, ebensowenig wie man ein Durcheinanderwirbeln von Tonarten Modulationsfreiheit nennen kann; daß man Wortdeklamationen nicht mit Melodie verwechseln darf und für die Bildung instrumentaler Formen nicht Gesetze aufstellen kann, die mit dem Wesen der Musik nicht das mindeste gemein haben...

Eine künstlerische Form, ähnlich wie die Erscheinungsform in der Natur, läßt sich nicht erklären, sondern höchstens beschreiben, ihr Wesen offenbart sich nur gleichnisweise durch die künstlerische Tat...

"Dauerhafte Musik" war ein Lieblingsausdruck von Brahms. Er meinte damit Musik, die in dem tiefen Untergrund des Geistes der Musik wurzelt und nirgends mit ihm in Widerspruch gerät, im Gegensatz zu derjenigen, welche haltlos an der Oberfläche des Nebensächlichen klebt und, mag sie noch so originell empfunden sein und reizvoll wirken, vom Strom der Zeit nur zu schnell fortgerissen wird, da sie einem tieferen Kunstbedürfnisse der Menschheit nicht zu genügen vermochte. (4.7.1995)

Freier Vers

Ralf Schauerhammer

Was unter "freier Lyrik", bzw. "freien Vers" zu verstehen ist bleibt oft unklar. Ich jedenfalls habe mich redlich bemüht, die verschiedenen Erklärungen zu verstehen. Sehr hilfreich war für mich, als kürzlich Ilona Pagel zur Erklärung "freier Verse" etwas über die Entstehung ihres Gedichts "Die Fahrkarte liegt in deiner Hand" sagte. Ich zitiere.
Eine Sterbende sagte genau den ersten Satz, den ich auch als Titel verwendet habe. Ich wusste für mich, er wird mich auch in 20 Jahren noch genau an diese Situation erinnern und er hat für Sterbende und für Sterbebegleiter eine wunderbare Aussage, die ich an den Leser genau so weiter geben wollte. Danach beschreibe ich die Situation in der dieser Satz so zweideutig und so eindeutig wird genauer. Später, mit Abstand habe ich versucht das Geschehen lyrisch zu verarbeiten und darum bin ich im Jambus fortgefahren. Es passte für mich am besten zu dieser Situation und es entstand ein Rhythmus aus sich selbst.

Für mich bedeutet also "freie Lyrik" nicht gebunden sein an vorgegebene Parameter und doch einen Rhythmus zu finden der dem Inhalt entspricht und die Situation in eine lyrische Form erhebt.

Die Fahrkarte liegt in deiner Hand
sagst du und hältst meine.
Im dämmrigen Umschwung
verzehrt die Zeit die Zeit
dein Atmen zerfällt.

Wie soll mein Denken
sterben lernen?
Sich fügen ins
Nichtdasein?


Hier endet das Zitat.

Als ich das las, führte es mir vor Augen, dass es falsch ist, die Definition des "freien Verses" durch Negation zu versuchen, was oft geschieht, d.h. "frei" von Reim, "frei" von Metrum, "frei" von wer-weiß-noch-was. Das kann keine Definition sein. Es bleibt immer die Frage: Und was ist es denn eigentlich?

"So frei, wie streng", schrieb Beethoven über seine Großen Fuge – exakt "tantôt libre, tantôt recherchée", denn er schrieb es auf Französisch. Dieses "so frei wie streng" gilt auch für den gereimten Vers, denn es gibt keine wirkliche "Freiheit von" sondern nur eine "Freiheit durch". Goethe sagt das Gleiche wie Beethoven in seinem Gedicht "Natur und Kunst", welches er mit den Worten schließt: "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben". Mir scheint es sehr wichtig zu verstehen, dass auch die gebundene Sprache Freiheit besitzen muss, d.h. dass kein prinzipieller Unterschied oder Gegensatz zum "freien Vers" bestehen kann. Auch lässt es sich vermuten, dass der Definitionen des "freien Vers" durch Negation, d.h. die Aufzählung "wovon" er frei sei, anstatt zu erklären "wodurch" er frei ist, ein unzureichendes Verständnis des Begriffs "Freiheit" zugrunde liegt.

Aber wie lässt sich "freier Vers" positiv bestimmen? Ich versuche nun eine Erklärung, welcher natürlich keine exakte Definition sein kann, indem ich den "freien Vers", genau wie es in dem obigen Zitat versucht wurde, vom Blickwinkel der Entstehung betrachte, d.h. indem ich nun seine "Geburt" zu beschreiben versuche.

Wenn man die Vielfalt an inhaltlichen Aussagen betrachtet, die ein Baby allein mit dem einzigen Wort "Mama" nur durch Veränderung des Rhythmus und Klangs ausdrücken kann, dann scheint die Annahme berechtigt, dass die Ursprache der Menschen poetisch und nicht prosaisch war, d.h. hauptsächlich geprägt von den Emotionen und der daraus entspringenden Prosodie, d.h. vom Klang (Lyrik) und nicht von den exakten Begriffen und Worten (Prosa).

Sehr bald haben sich jedoch bestimmte Rhythmen und Klänge als besonders wirkungsvoll herausgestellt, wie man es in sogenannten primitiven Kulturen erkennen kann, und diese "Formen" aus bestimmten Sprachelementen entwickelten sich dann immer weiter. Irgendwann (bei den Arabern) wurde z.B. der Reim samt seiner zauberhaften Wirkung entdeckt und immer mehr interessante Strophenformen wurden geboren. Es ist ein großer Reichtum, der uns heute zur Verfügung steht.

Nun kommt ein weiteres Element hinzu, welches man in der Musik vielleicht deutlicher erkennen kann, nämlich die Notwendigkeit der Dissonanz, welche einen Spannungsbogen erzeugt, der konsonant gelöst werden muss. In der Lyrik entsprechen den Dissonanzen "Tonbeugungen" und "Unregelmäßigkeiten", welche eine schwebende Spannung hervorrufen und bisweilen ist es bei großen Meistern (z.B. Goethe) gar nicht leicht, überhaupt ein Metrum zu erkennen. Trotzdem ist seine Sprache "gebunden", selbst in solchen bisweilen als "freier Vers" missverstandenen Gedichten wie "Prometheus".

Ein "freier Vers" ist vielleicht besser charakterisiert als ein "frei schwebender Vers", d.h. es ist eine Form, die vom emotionalen Gehalt geprägt ist, nicht vom sachlichen Inhalt (das wäre Prosa), welche Rhythmus, Phrasierung und Prosodie hat, und diese sprachlichen Elemente aus dem unerschöpflichen Reservoir der lyrischen Formen nimmt, aber mit diesen frei improvisiert. Dabei vollzieht sich eine eine äußerst schwierige Grandwanderung, jedem Augenblick droht die freie Improvisation in die Niederung der Prosa abzugleiten oder doch wieder gebundene Sprache zu werden. Deswegen eignet sich der "freie Vers" für stark emotional geprägte Inhalte, wie z.B. das oben erwähnte Gedicht von Ilona Pagel.

Ist vor diesem Hintergrund der Ausdruck "frei schwebender Vers" nicht schöner und genauer zu sein, als "freier Vers"?

Die bisweilen zu hörende Behauptung, man könne, solle, müsse heute nur noch im "freien Vers" schreiben, halte ich übrigens für oberflächlich und falsch. Der "frei schwebende Vers", kurz "freie Vers", ist eine Form unter vielen, die im jahrhunderte-alten Garten der Poesie neben all den anderen schönen Formen ihren Platz hat.

giulietta

Warum sind „abgegriffene Reime“ ein Problem?

Ralf Schauerhammer

Bisweilen stechen in Gedichten Worte ins Auge, die unpassend und manieriert klingen. Warum wurde nicht ein einfaches und naheliegendes Wort gewählt? Wenn man die Gelegenheit hat, den Autor zu fragen, erhält man fast immer zur Antwort, es handele sich bei dem einfachen Wort um einen "abgegriffenen Reim", als sei das etwas geradezu Unappetitliches. Vielleicht ist dieser "abgegriffene" Reim aber trotzdem das kleine Übel, wenn der neu geprägte Reim unpassend wirkt.

Was bedeutet "abgegriffen" überhaupt? In Verona steht von der "Casa di Giulietta" eine Bronzestatue der Julia, sie ist wunderschön "abgegriffen". Diese Statue steht nicht nur herum, die Menschen "begreifen" ihre Schönheit, man könnte natürlich auch sagen, sie "betatschen sie". Jeder, der das tut, versichert sich damit der treuen Liebe der, bzw. des Geliebten und manche bringen kleine Zettel oder Schlösser mit ihren Namen in der Nähe der Statue an. Die Statue ist abgegriffen, weil sie genutzt wird, weil man etwas damit anzufangen weiß, weil sie auf Menschen eine Wirkung hat. Diese Wirkung hat sie jedoch nur im Zusammenhang mit Shakespeares bekannter Tragödie, in der die unverbrüchliche Liebe der Julia zu Romeo erblüht.

Gilt nicht das Gleiche auch für Reime – "abgegriffene" oder völlig neu geprägte? Auch sie wirken nur im Zusammenhang des gesamten Gedichts und können dabei so abgegriffen sein wie die Statue in Verona, wenn sie nur ihre wunderbare Wirkung entfalten und für den Leser Schönheit begreifbar machen.

Geradezu ein Paradebeispiel für einen dieser "abgegriffenen Reime" ist "Rose und Nachtigall", was sich im Deutschen nicht reimt, dafür klingt es im Orient umso schöner: "Gül – Bülbül" auf Türkisch und "Gul – Bulbul" auf Persisch. Der Rose-Nachtigall-Reim ist in der persischen und türkischen Dichtung häufiger als der "Herz-Schmerz-Reim" im Deutschen. Nicht nur der Klang macht die Schönheit von "Gül – Bülbül" aus, sondern die Mannigfaltigkeit der poetischen Bilder, die von den beiden Reimworten aufgespannt wird, die selbst im Deutschen – wo die Worte unterschiedlich klingen – spürbar ist.

Übrigens ist "Herz-Schmerz" auch ein sehr guter Reim; deswegen haben ihn Dichter so oft verwendet. Schiller zum Beispiel verwendet ihn meisterlich in der Schlussstrophe des philosophischen Gedichtes "Die Macht des Gesanges", in welcher er die zuvor entwickelte Aussage über die Wirkung der Poesie in einem mitreißenden Bild verdichtet:

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuetränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz:
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarnen.

Auf den bisweilen zu hörende Einwand, man könne heute "so" nicht mehr dichten, – leider können es die meisten Dichter wirklich nicht – könnte man viel sagen, aber das würde vom Wesentlichen ablenken.

Es geht um die Frage, ob dieser "abgegriffene" Reim "Herz-Schmerz" gut oder schlecht ist. Wie man sieht, hängt das davon ab, wie der Reim in dem jeweiligen Gedicht verwendet wird. Das ist heute natürlich schwieriger als früher, als er noch "frisch" war, da seine Geschichte – all die vielen einprägsamen Beispiele der Vergangenheit – unweigerlich mitschwingt. Aber den Reim einfach als "abgegriffen" abzustempeln und ihn zu vermeiden, das scheint mir das Kind mit dem Bade auszuschütten. Werfen wir denn die Statue der Julia in Verona auf den Müll, nur weil sie "abgegriffen" ist und nicht mehr neu aussieht?

Neue Wortschöpfungen und Reime sind für die Poesie lebenswichtig, es ist jedoch sehr schwer, wirklich gute neue Reime zu erfinden. Wenn diese neuen Reime nicht genau passend und natürlich, sondern "gemacht" wirken, dann sind sie einfach nicht gut gelungen und man sollte demütig auf das zurückgreifen, was große Dichter bereits erschaffen haben.

Es kommt natürlich bisweilen vor, dass man beim Dichten den Eindruck hat, dass ein bestimmter Reim, der doch eigentlich sehr gut passen würde, doch etwas "abgegriffen" zu sein scheint. Was tun? Anstatt nach einer neuen Wortkreation zu suchen, ist es dann wahrscheinlich einfacher und besser, einige Gedanken darauf zu verwenden, was an dem Gedicht insgesamt möglicherweise nicht tief, authentisch und schön genug ist. Vermutlich liegt hier die Ursache, wenn ein an sich passender Reim seine Wirkung nicht entfalten kann. Oft ist der "abgegriffene Reim" nur darum ein Problem. Mit dem Reim ist es eben wie mit einer Münze: Der Wert zählt, ob frisch geprägt oder abgegriffen.

Das ewige Nun

Zyklus mit einigen Überlegungen zur Philosophie der Komposition

Augenblick
Καιρός

Dein Augenblick, ein Blitz von dir
veränderte in mir
Gefühle, Denken und den Sinn,
zog alles zu dir hin.
Ein Paulus bin ich und verliebt,
weiß, dass es Wunder gibt
und eine Ewigkeit in dir.

Auf Pfaden der Vergänglichkeit
verging ich in der Zeit;
in Einsamkeit und steter Hast
war ich nur wie zu Gast
bei mir; ein Taumel ohne Sein
im Hier, mit einem Bein
im Grabe der Unendlichkeit.

Nun ist mir plötzlich alles licht
durch dich, von Angesicht
zu Angesicht erscheint die Welt
durch dich allein erhellt.
Es sind mein Körper und mein Geist
verloren und verwaist,
bin ich in deiner Nähe nicht.

Auf der Brücke

Noch einmal wende ich mich um,
auf dieser Brücke, sehe stumm,
wie Tränen dir im Auge stehen,
doch muss ich trotzdem weitergehen
den Weg, den Herbstlaub gnädig barg.
Die Stadt erscheint mir wie ein Sarg
und aus den Gullideckeln steigt
ein Atem der Vergänglichkeit,
worin sich Raum verliert und Zeit.

Geburtsmomente

Seit Ewigkeiten kreist der Himmel seine Bahnen,
plötzlich erscheint
herrlich und klar
der neue Stern.

Wie lange herrschte Aug um Auge, Zahn um Zahn?
Plötzlich erscheint
göttlich und mild
das Liebekind.

Seit Menschen aufwärts blickten, ruhte fest die Erde,
plötzlich erscheint
denkendem Geist
die neue Welt.

Wie lange treiben melancholische Gefühle?
Plötzlich entspringt
tränendem Stift
das Lobgedicht.


Überlegung zur Philosophie der Komposition

Da es mich immer interessiert, wie Gedichte zustande kommen, möchte ich nun meinerseits versuchen, möglichst genau zu erklären, wie dieser kleine Zyklus entstanden ist. Vielleicht kann ich dabei auch einen Punkt klären, der mir bei der Lektüre von Edgar Allan Poes "Philosophy of Composition" bisher unklar war. Poe beschreibt in diesem wunderbaren Aufsatz die Entstehung seines Gedichtes "The Raven". Bei aller Exaktheit der Schilderung hat mir jedoch immer etwas gefehlt. Ich vermutete, dass das in Poes Absicht seines Essays begründet liegt, der Vorstellung der romantischen Gefühlspoesie möglichst deutlich entgegenzutreten. Poe sagt, er wolle dem Leser klar machen, dass keine Zeile des Gedichtes einer Intuition entsprungen sei, sondern dass die Entstehung stufenweise, wie die Lösung eines mathematischen Problems voranschritt.

Jedes einzelne Gedicht meines kleinen Zyklus' ist in einer Weise entstanden, die der von E. A. Poe in "Philosophy of Composition" beschrieben sehr ähnlich ist. Aber es gab "vorgeschaltete" Schritte, welche Poe nicht erwähnt. Das Zustandekommen der Gedichte beruhte nicht einfach auf einem Entschluss, ein wirkungsvolles Gedicht zu schreiben und dafür ein entsprechendes Thema zu suchen – wie in Poes Aufsatz beschrieben. Sondern das Thema zweier der drei Gedichte entsprang auf eine ganz andere Weise, nämlich aus Gedanken über die Frage der Zeit und den Begriff "Kairos". Dieses Denken war gar nicht auf Poesie gerichtet, aber es erzeugte in mir einen Gefühlszustand, aus welchem die Idee für diese Gedichte entsprang, und zwar in einer Kombination von Inhalt und Form, wobei die Form direkt mit dem Gefühlszustand verbunden war und nicht mit dem Inhalt.

Zuerst entstand auf diese Weise das Gedicht "Augenblick", dem ich als Arbeitstitel "Liebe" gab. Es handelt sich nicht primär um erotische Liebe. Das beim Nachdenken über Kairos entstandene Gefühl hatte in mir eine Situation aus meiner Jugend wieder wach gerufen, welche mit einem tiefen religiösen Empfinden verbunden war, von dem ich nun im Nachhinein merkte, dass es dem Gefühl tiefer Liebe sehr ähnlich ist, das auch Menschen ganz ohne Religion kennen. Ab diesem Zeitpunkt verfuhr ich so mechanisch, wie es Poe in seinem Aufsatz beschreibt. Aber die Metrik und die Form der Reime musste ich mir nicht auswählen, da diese Form bereits mit der Idee des Gedichtes entstanden war. In der Tat wäre es mir unmöglich gewesen, diese Form (wie Poe es beschreibt) auszuwählen, da es diese Form der siebenzeiligen Strophe bisher nicht gab. Ich habe jedenfalls auch bei meinen späteren Nachforschungen nichts derartiges gefunden.

Nachdem ich das Gedicht "Augenblick" fertiggestellt hatte, kreisten meine Gedanken weiter um den Begriff "Kairos", und aus einem ganz anderen, ja fast entgegengesetzten Gefühl wurde mir die furchtbare Situation des plötzlichen Herzstillstands meiner ersten Frau gegenwärtig. In diesem Augenblick erschien mir die Idee von "Auf der Brücke", wobei wieder Inhalt und grundlegende Form in Verbindung erschienen. Trotz des emotionalen Gegensatzes verband beide Gedichte der Begriff "Kairos".

Nun erst, nachdem dieses beiden Gedichte fertig waren, lernte ich den Begriff "Das ewige Nun" von Meister Eckehart kennen und dabei kam mir der Gedanke, dass zu diesen beiden Gedichten im Grunde noch der "unendliche" Moment der Geburt hinzukommen müsse, um den emotionalen Bogen vollständig zu spannen, d.h. die ganze Sache poetisch "rund" zu machen. Jetzt war ich tatsächlich an dem Punkt, an dem Poe seinen Aufsatz beginnt, d.h. ich begann das letzte Gedicht des Zyklus vom Standpunkt der zu erzielenden Wirkung und des dazu nötigen Tons. Die Situation empfand ich als schwierig und kam erst nach Tagen damit voran, als ich mich an das erhabene Gefühl erinnerte, welches ich beim Schreiben einiger meiner Gedichte empfand und zu Tränen gerührt wurde. In solche einem Moment stand das Gedicht als Ganzes vor mir, nicht in der zeitlichen Abfolge der Strophen, in der es später aufgeschrieben werden muss, sondern in einem einzigen Augenblick. Nun hatte ich die Grundlage gefunden, auf der ich schrittweise weitergehen konnte.

Als ich darüber nachdachte, kam mir etwas in den Sinn, welches zur ersten Strophe wurde, nämlich der Schluss des Dialogs "Die Macht des Wortes" von Edgar Allan Poe. Dort wird nämlich etwas dargestellt, was dem gerade erwähnten Gefühl bei der "Geburt" eines Gedichtes gleicht. Poe beschreibt es in dem Dialog mit der Geburt eines Sternes. Weil diese Stelle so schön ist, führe ich sie hier (von mir aus dem Englischen übertragen) an.

Der Dialog endet mit der Frage: "Warum weinst du plötzlich und warum, warum nur lässt du die Schwingen sinken, während wir über diesem schönen Stern dahinschweben – den grünsten und zugleich zerklüftetsten, dem wir auf unserer ganzen Reise begegneten? Seine strahlenden Blumen erscheinen wie Feenträume – jedoch seine wilden Vulkane wie die Leidenschaften eines stürmisch bewegten Herzens."

Die Antwort lautet: "Sie sind es! – Sie sind es! Dieser wilde Stern – es ist nun dreihundert Jahre her, als ich händeringend mit tränenüberströmten Augen zu Füßen meiner Geliebten – als ich ihm – mit wenigen leidenschaftlichen Sätzen – als ich ihm sein Dasein gab. Seine strahlenden Blumen sind die lieblichsten aller unerfüllten Träume und seine tosenden Vulkane sind die Leidenschaften des stürmischsten, verstoßenen Herzens."

Dieser Dialog scheint mir übrigens zu bestätigen, dass Poe in "Philosophy of Composition" einige Aspekte des Entstehens seiner Gedichte nicht beschreibt.

Danach fielen mir vergleichbare Momente ein, woraus die beiden mittleren Strophen entstanden. Da mir in diesem Fall die Form nicht sofort gegenwärtig war, entschloss ich mich, den "unendlichen Moment", um den es geht, allein durch den Rhythmus des Gedichtes auszudrücken. Nachdem es fertig da stand, meinte ich, dieses Gedicht, der Entstehungsgeschichte folgend, an das Ende des Zyklus stellen zu müssen, obwohl es "logisch" eigentlich an den Anfang gehört.

Ralf Schauerhammer

Warum ist die Geschichte ein erhabener Gegenstand?

von Ralf Schauerhammer

I.

Friedrich Schiller unterstreicht in seinem Aufsatz Über das Erhabene die Bedeutung des menschlichen freien Willens und dessen Verhältnis zur Vernunft: „Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben.“ Willensfreiheit bedeutet nicht, daß der Mensch tun und lassen kann, was er will. Der Mensch ist den Naturgewalten ausgesetzt, und selbst wenn er durch Technologie seine Macht über die Natur steigert, so kann er doch nicht über alles Herr werden. Er wird zum Beispiel niemals Herr über den Tod werden. Der Mensch muß sterben, obwohl der leben will.

Aber was bedeutet Willensfreiheit in dem Fall, in dem der Mensch seinen Willen nicht durchsetzen kann? In diesem Fall, so Schillers Antwort, muß der Mensch für sich selbst den „Begriff der Gewalt vernichten“. Wie ist das möglich? „Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten“, sagt Schiller, „heißt aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen.“ Der Mensch kann sich einer Gewalt (z.B. einem Schicksalsschlag) freiwillig unterwerfen; dazu ist jedoch eine „durch Kultur veredelte Sinnesart“ nötig, welche zum Beispiel die „Religion unter den Begriff der Ergebung in den göttlichen Ratschluß lehrt“, sagt Schiller in Über das Erhabene. Er hatte dabei sicherlich die siebte Szene des fünften Aktes aus Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise vor Augen. Darin beschreibt Nathan dem Klosterbruder, der ihm vor 18 Jahren seine Pflegetochter Recha gebracht hatte, was seinerzeit geschehen war, und was der Klosterbruder damals nicht wissen konnte:

Ihr traft mich mit dem Kinde zu Darun.
Ihr wißt wohl aber nicht, daß wenig Tage
Zuvor, in Gath die Christen alle Juden
Mit Weib und Kind ermordet hatten; wißt
Wohl nicht, daß unter diesen meine Frau
Mit sieben hoffnungsvollen Söhnen sich
Befunden, die in meines Bruders Hause,
Zu dem ich sie geflüchtet, insgesamt
Verbrennen müssen. – – – Als
Ihr kamt, hatt' ich drei Tag' und Nächt' in Asch'
Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. –
Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet,
Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht;
Der Christenheit den unversöhnlichsten
Haß zugeschworen –

Doch nun kam die Vernunft allmählich wieder.
Sie sprach mit sanfter Stimm': "und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast,
Was sicherlich zu üben schwerer nicht,
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.
Steh auf!" – Ich stand! und rief zu Gott: ich will!
Willst du nur, daß ich will! – Indem stiegt Ihr
Vom Pferd, und überreichtet mir das Kind,
In Euern Mantel eingehüllt. – Was Ihr
Mir damals sagtet; was ich Euch: hab' ich
Vergessen. Soviel weiß ich nur; ich nahm
Das Kind, trug's auf mein Lager, küßt' es, warf
Mich auf die Knie und schluchzte: Gott! auf Sieben
Doch nun schon Eines wieder!



Die „Stimme der Vernunft“ sagt, es war „Gottes Ratschluß“ – „ich will“! Nathans Gesinnung und Handlung ist erhaben. Hätte Nathan nicht willentlich sein Schicksal als Gottes Ratschluß angenommen, so hätte er niemals all die Liebe, die er seinen Kindern nun nicht mehr erweisen konnte, der neu geschenkten Tochter entgegenbringen können. Wer weiß wohin ihn die Rache getrieben hätte? Hatte er doch der gesamten Christenheit seinen unversöhnlichen Haß geschworen und das in seine Hände gegebene Mädchen schien eine Christin zu sein! Es macht also einen großen Unterschied für einen selbst, für andere und die Welt insgesamt, ob man sich einer Gewalt freiwillig unterwerfen kann (und seine Willensfreiheit rettet), oder ob man dazu nicht in der Lage ist (und an seine „natürlichen Triebe“ gefesselt bleibt).

Es ist jedoch nicht selbstverständlich, daß der Mensch erhaben handelt. Schiller schätzt die Sache recht realistisch ein und sagt, es sei dazu „eine größere Klarheit des Denkens und eine höhere Energie des Willens (nötig), als dem Menschen im handelnden Leben eigen zu sein pflegt.“ Es gibt aber „glücklicher Weise“ in der menschlichen Natur „eine ästhetische Tendenz,... welche durch gewisse, sinnliche Gegenstände geweckt und durch Läuterung seiner Gefühle zu diesem idealistischen Schwung des Gemüts kultiviert werden kann.“ Und von dieser ästhetischen Tendenz handelt sein Aufsatz Über das Erhabene, in dem er an einer Reihe von Beispielen zeigt, wie diese ästhetische Tendenz den Menschen frei machen kann von einer an die Sinnenwelt gefesselten Geisteshaltung und zur Vernunftfreiheit leitet. Als eines dieser Beispiele für das Erhabene dient Schiller die Geschichte.

II.


Um verstehen zu können, was Schiller über die im Menschen als Anlage vorhandene ästhetische Tendenz zum Erhabenen sagt, muß man sich klar machen, warum die Vernunft nur die „ewige Regel“ des menschlichen freien Willens ist und warum das angeführte Beispiel aus Lessings Nathan nichts mit stoischer Passivität zu tun hat, sondern im Gegenteil eine „hohe Energie des Willens“ voraussetzt.

Wenn man Schillers Worte zum erstenmal liest, fragt man sich: Ist es nicht ein Paradox, wenn ich wollen soll, was ich ohnehin muß? Um diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen, muß man sich überlegen, wann das der Fall ist und wo die Grenze der menschlichen Willensfreiheit liegt. Nicht jeder Wille kann erfüllt werden. Wenn jemand zum Beispiel einen viereckigen Kreis zeichnen möchte, dann wird er, selbst wenn er der allmächtige Gott wäre, seinen Willen nicht verwirklichen können. Die Eigenschaft „viereckig“ ist mit der Idee des Kreises nicht vereinbar. Der Begriff ist in sich widersprüchlich, so etwas kann es unmöglich geben. Das logisch Unmögliche ist die Grenze der Willensfreiheit, aber der menschliche Wille reicht mit seiner schöpferischen Freiheit bis an diese Grenze heran, ja er durchbricht sie bisweilen. Der geniale Kopf kann ganze Kontinente aus dem Meer entstehen lassen und sogar Sterne am Firmament, wie es Edgar A. Poe in Heureka beschreibt.

Schiller verwendet für die Macht der schöpferischen Freiheit die Metapher des Christoph Kolumbus:


Kolumbus.

Steure, mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen
Und der Schiffer am Steu'r senken die lässige Hand.
Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen,
Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand.
Traue dem leitenden Gott und folge dem schweigenden Weltmeer!
Wär' sie noch nicht, sie stieg' jetzt aus den Fluten empor.
Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde;
Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß.


Schiller sagt nicht: „Das Genie kann die Natur entdecken.“ Er sagt: „Was der Genius verspricht, leistet die Natur gewiß!“ Der amerikanische Kontinent steigt für Kolumbus, der ihn entdecken will, aus dem Ozean hervor. Das ist nicht Science Fiction, das ist Realität! Natürlich nicht für Christoph Kolumbus als (wohlmöglich mit magischen Kräften ausgestattetes) Individuum, aber für die Kraft der schöpferischen Vernunft der Menschheit, welcher Schiller mit seiner Kolumbus-Metapher huldigt. Diese Bedeutung der schöpferischen Vernunft bringt bereits der junge Schiller in den Philosophischen Briefen zum Ausdruck. Was Schiller darin mit Bezug auf Kolumbus über den menschlichen Geist aussagt, wird in dem eben zitierten Gedicht poetisch verdichtet:

„Unsere reinsten Begriffe sind keineswegs Bilder der Dinge, sondern bloß ihre notwendig bestimmten und koexistierenden Zeichen. Weder Gott, noch die menschliche Seele, noch die Welt, sind das wirklich, was wir davon halten… [D]ie Kraft der Seele ist eigentümlich, notwendig, und immer sich selbst gleich; das Willkürliche der Materialien, woran sie sich äußert, ändert nichts an den ewigen Gesetzen, wonach sie sich äußert, solang das Zeichen dem Bezeichneten durchaus getreu bleibt. So wie die Denkkraft die Verhältnisse der Idiome entwickelt, müssen diese Verhältnisse in den Sachen auch wirklich vorhanden sein. Wahrheit ist also keine Eigenschaft der Idiome, sondern… die Übereinstimmung dieses Begriffs mit den Gesetzen der Denkkraft… Auf die Unfehlbarkeit seines Kalküls geht der Weltentdecker Kolumbus die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meere ein, die fehlende zweite Hälfte zu der bekannten Hemisphäre, die große Insel Atlantis zu suchen, welche die Lücke auf seiner geographischen Karte ausfüllen sollte.“ (Hervorhebung R.S.)

Nur wenn die Begriffe entsprechend den „Gesetzen der Denkkraft“ entwickelt werden und deshalb den Relationen der Dinge entsprechen, nur dann leistet die Natur, was der Genius verspricht. Wahrheit liegt nicht in der Übereinstimmung des Begriffs mit dem Gegenstand, sondern in Übereinstimmung „mit den Gesetzen der Denkkraft.“ Dem Verstand, der letztendlich an das Reich der Sinne gefesselt bleibt, muß das ein Rätsel bleiben, aber die schöpferische Vernunft, an deren ewigen Gesetzen die „Willkür“ der materiellen Erscheinungen nichts ändert, kann diese Harmonie erfassen und Ideen schaffen, welche zur Erweiterung oder Neugestaltung von Axiomensystemen führen. Mit diesen kann dann der Verstand operieren und so die allein durch den freien Willen des Genies nach den „ewigen Regeln“ der Vernunft hervorgebrachten Ideen logisch begreifbar machen. Die Wahrheit liegt nicht in den offensichtlich gültigen, einfachen Axiomen. Diese sind nur die ersten Knoten eines logischen Netzwerkes, mit dem der Verstand die Vernunftideen einfängt, deren Wahrheit die Vernunft nach ihren „unsinnlichen“ Regeln erzeugt.

Da unser Denken heute stark von der Metaphysik des Empirismus geprägt ist, wird die Bedeutung der Vernunftideen für die Wissenschaft oft nicht verstanden. Der Empirismus lehnt die Vernunft entweder ganz ab, oder unternimmt den Versuch, diese mit den für ihre Regeln blinden Werkzeugen des Verstandes zu erkennen, was dann selbstverständlich nicht gelingt.

Schon Johannes Kepler warnte Galileo Galilei in seinem Sternenherold vor einer zu empirischen Sichtweise und hob die Bedeutung von Platons „Denkverfahren“ hervor, welches schon „vor soviel Jahrhunderten aus Begriffen, die der Erfahrung vorhergehen“, das Wesentliche des modernen Weltbildes schuf. „Darum stehen die Denker, die die Ursachen der Dinge im Geiste empfangen, noch ehe sie sinnfällig werden, jenem ersten Baukünstler näher als die anderen, die über die Dinge erst nachzudenken beginnen, wenn sie diese mit Augen geschaut haben. So wirst Du also, Galilei, unseren Vorgängern ihren Ruhm nicht neiden." Kepler gab seinem Hauptwerk den Namen Weltharmonik, weil er darin zeigte, daß die Astrophysik (im Grunde die ganz Physik) auf einer grundlegenden Harmonie zwischen den Gesetzen der menschlichen Vernunft und den Gesetzen des erkennbaren Universums basiert.

Diese von Gottfried Wilhelm Leibniz weiterentwickelte Denktradition war zu Schillers Zeit so allgemein verbreitet, daß man sie später mit dem Begriff „Popularphilosopie“ belegte. Heute ist die Philosophie nicht so populär und mißachtet das Konzept der Vernunfterkenntnis, welches zum Verstehen Schillers unerläßlich ist.

Da diese Frage sehr wichtig ist, folgen einige erklärende Sätze. Leser, welche den Punkt verstanden haben, können bei Absatz IV weiterlesen.

III.


Was damit gemeint ist, daß die Wahrheit nicht in den Axiomen und den einfachen Begriffen zu finden ist, kann man sich anhand der Entwicklung des Zahlbegriffs verdeutlichen. Die Griechen kannten zum Beispiel noch keine Bruchzahlen, sondern nur die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, 5,… Genau genommen war für sie auch die „1“ keine Zahl, denn sie unterschieden die Einheit „1“ grundsätzlich von den Vielheiten „3“ oder „5“, welche durch wiederholtes Setzen der Einheit entstehen. Eine Zahl 3/5 ist in diesem konzeptionellen Rahmen nicht möglich und etwas ganz anderes als das Verhältnis 3 : 5, also das Verhältnis der Vielheit „3“ zur Vielheit „5“. Etwas wie „Wurzel 2“ ist als Verhältnis von Vielheiten überhaupt nicht zu fassen. Wenn wir heute wissen, daß 3/5 eine Bruchzahl ist, mit der man wie mit jeder anderen natürlichen Zahl rechen kann, dann rechnen wir mit ganz anderen Zahlen als die Griechen. Wir kennen die Sonderstellung der „1“ als Einheit nicht mehr und die Ziffer „5“ ist nur eine Kurzfassung für „5/1“ oder „15/3“. Die Erfindung der Bruchrechnung schuf nicht nur neue Zahlen, wie z.B. „3/5“, sondern sie ging mit einer grundlegenden Veränderung der Idee der Zahl einher. Das Entsprechende geschah dann nochmals mit der Einführung der reellen Zahlen, denn jetzt ist die 1 eigentlich 1,00…, oder was dasselbe ist 0,99… Dabei deuten der Strich unter der 9 und die drei Punkte an, daß man eigentlich die Ziffer 9 unendlich oft schreiben müßte. Der Zahlbegriff wird immer reichhaltiger und das Netzwerk der damit ausführbaren Operationen immer weitreichender. Das Netzwerk selbst ist völlig logisch, sowohl bei den Griechen, als auch bei diejenigen, die Bruchrechnen können und auch für das Rechnen mit reellen Zahlen, oder später mit komplexen Zahlen; aber die jeweilige Veränderung der Idee der Zahl geschieht nicht nach den Regeln der Logik, sondern nach denen der schöpferischen Vernunft, welche man nachträglich versucht, dem Verstand logisch verständlich zu machen. Die Wahrheit der Idee erkennt aber nur die Vernunft selbst. Da die Logik eine sehr exakte Wissenschaft ist, konnte Kurt Gödel mit seinem Unvollständigkeitsbeweis die Existenz dieser Grenze des Verstandes beweisen.

Wie kann man die jenseits der Verstandeslogik liegenden Regeln der Vernunft erforschen? Einen wichtigen Beitragt zur Beantwortung dieser Frage hat der Mathematiker Jacques Hadamard in seinem 1945 erschienenen Buch The Psychology of Invention in the Mathematical Field geliefert. Darin untersuchte er Zitate genialer Menschen, welche selbst das Zustandekommen schöpferischer Ideen beschreiben. Ein Beispiel ist, wie Henri Poincaré die Entstehung eine seiner mathematischen Entdeckungen beschrieb. Poincaré hatte lange intensiv über ein Problem nachgedacht, ohne zu einer Lösung zu kommen. Dann wurde er in seiner Arbeit unterbrochen. Poincaré beschrieb die Situation so: „Genau zu dieser Zeit verließ ich Caen, wo ich lebte, um an einer von der Bergwerksakademie veranstalteten geologischen Exkursion teilzunehmen. Das Ereignis der Reise ließ mich meine mathematische Arbeit vergessen. Als wir Coutances erreicht hatten, stiegen wir in einen Omnibus, um an einen anderen Ort zu fahren. In dem Moment, als ich meinen Fuß auf das Trittbrett setzte, bekam ich die Idee, ohne daß zuvor irgend etwas in meinen Gedanken gewesen wäre, welches ihr den Weg hätte bereiten können… Ich habe die Idee nicht verifiziert…, aber ich fühlte mich völlig sicher. Nachdem ich nach Caen zurückgekehrt war, habe ich, um gewissenhaft zu sein, das Resultat in aller Ruhe verifiziert.“

Man erkennt den deutlichen Unterschied zwischen der erleuchtenden Vernunftidee und der logischer Verifizierung durch den Verstand. Beides sind völlig unterschiedliche Fähigkeiten des Menschen, und beides ist für eine wissenschaftliche Entdeckung oder ein schöpferisches Kunstwerk notwendig. Einen tiefen Einblick in die Regeln der Vernunft und den Unterschied zum Verstandesdenken, gibt auch das von Hadamar zitierte Beispiel eines berühmten Briefes von Wolfgang A. Mozart, der 1815 von Johann Friedrich Rochlitz in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung veröffentlicht wurde und wahrscheinlich an van Swieten gerichtet war.

„Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge,... da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiß ich nicht, kann auch nichts dazu. Die mir nun gefallen, die behalte ich im Kopfe, und summe sie auch wohl vor mich hin, wie mir Andere wenigsten von mir gesagt haben. Halt ich das nun fest, so kommt mir bald Eins nach dem Andern bei, wozu so ein Brocken zu brauchen wäre, um einen Pastete daraus zu machen, nach Contrapunkt, nach Klang der verschiedensten Instrumente, etc. etc. etc. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer größer; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich’s hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmaus.“

Die Vernunft bedarf keiner Raum-Zeit, sie muß ja nicht Sinneseindrücke ordnen. Für Mozart ist die Idee unmittelbar und vollständig gegenwärtig und er kann das gesamte Musikstück „gleichzeitig“ vor seinem „geistigen Auge hören“ und „gar nicht nacheinander, wie es hernach kommen muß“, damit der Hörer die musikalische Idee sinnlich und verständlich erfassen kann.


IV.


Schiller schätzt die Vernunftfreiheit des Menschen so hoch, daß er den biblischen Sündenfall als „die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte“ bezeichnet, weil der Mensch „von diesem Augenblick her sich seine Freiheit schreibt“. Die Willesfreiheit macht den Menschen selbst „für das Paradies zu edel“, da er schöpferisch tätig sein möchte und das Paradies in eine Wildnis verwandeln würde, und zwar nur, um dann die Wildnis zum Paradies zu machen.

Dieses selbstgeschaffene Paradies bezieht sich nicht nur auf seine materielle Umgebung, sondern es erstreckt sich auch auf die Gesetze der Natur und der Geschichte. Der „philosophische Geist“ erschafft, so sagt Schiller in seiner Antrittsvorlesung, bei der Erforschung der Geschichte ein solches Paradies, denn er nimmt die „Harmonie aus sich selbst heraus und verpflanzt sie außer sich in die Ordnung der Dinge, d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte.“ Schiller warnt davor, „den Begebenheiten Gewalt anzutun“, doch „schon der stille Hinblick“ auf dieses Ziel, „das Problem der Weltordnung aufzulösen und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen,… muß dem Fleiß des Forschers einen belebenden Sporn“ geben.

Die paradiesbauende Vernunft erhebt den Menschen, sie ist das Göttliche in ihm. Auf diesen Trieb des Vernunftmenschen, aus der Wildnis ein Paradies zu bauen, weist Schiller in der Schrift Über das Erhabene hin, wenn er fragt: „Wer verweilet nicht lieber bei der geistreichen Unordnung einer natürlichen Landschaft, als bei der geistlosen Regelmäßigkeit eines französischen Gartens?“ Dem Verstand mag das müßige Paradies dieser „geistlosen Regelmäßigkeit“ behaglich vorkommen, die schöpferische Vernunft hingegen treibt es in die Wildnis, um wirken zu können. Schiller erklärt, daß der Verstand, der begreifen und ordnen will, bei einem regulären Wirtschaftsgarten weit mehr als bei einer wilden Naturlandschaft seine Rechnung findet. Aber der Mensch hat noch ein Bedürfnis mehr, als zu leben und sich wohl sein zu lassen, und auch noch eine andere Bestimmung, als die Erscheinungen um ihn herum zu begreifen.“ Deshalb ist die „Anarchie der moralischen Welt“, genau wir die Wildnis in der Natur, „die Quelle eines ganz eigenes Vergnügens“ für das „begeisterungsfähige Gemüt“, welches die Welt eben nicht nur „mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet“. Für den schöpferischen Menschen ist nämlich „gerade dieser gänzliche Mangel einer Zweckverbindung unter diesem Gedränge von Erscheinungen, wodurch sie für den Verstand... übersteigend und unbrauchbar werden“ ein treffliches „Sinnbild für die reine Vernunft“, weil sie ihre Unabhängigkeit von den Naturgesetzen deutlich macht und damit jeden „Fehlschlag der Erkenntnis“ mehr als aufwiegt.

„Aus diesem Gesichtspunkt“ der für den Verstand unermeßlichen Vernunftfreiheit des Menschen „betrachtet, und nur aus diesem, ist mir die Weltgeschichte ein erhabenes Objekt. Die Welt, als historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Konflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freiheit des Menschen, und den Erfolg dieses Kampfes berichtet uns die Geschichte.“ (Hervorhebung R.S.) Schiller fügt den sehr realistischen aber nützlichen Kommentar an: „So weit die Geschichte bis jetzt gekommen ist, hat sie von der Natur (zu der alle Affekte im Menschen gezählt werden müssen) weit größere Taten zu erzählen, als von der selbständigen Vernunft, und diese hat bloß durch einzelne Ausnahmen vom Naturgesetz in einem Cato, Aristides, Phocion und ähnlichen Männern ihre Macht behaupten können.“


V.


Es lohnt sich, die von Schiller erwähnten Personen genauer zu betrachten, worin das Wirken der „selbständigen Vernunft“ des Menschen in der Geschichte offenbar wird. Ich will anhand des von Schiller schon in Die Räuber gelobten Plutarch kurz auf Aristides eingehen. Die Zeit, in der Aristides lebte, ist dadurch gekennzeichnet, daß es dem kleinen und in mehrere, zumeist miteinander in Streit liegenden Staaten geteilte Griechenland gelang, der Hegemonialmacht Persien Paroli zu bieten. Wäre die Geschichte und die menschliche Vernunft berechenbar, so wäre Griechenland der wirtschaftlichen und militärischen Übermacht Persiens zwangsläufig unterlegen – die Griechische Klassik und alles, was aus ihr folgte, hätte es nicht gegeben!

Wenn die Geschichtsbücher erklären, warum die Griechen widerstehen konnten, dann berichten sie gewöhnlich von Themistokles und der Schlacht von Salamis. Wenn man Plutach folgt, der sich das Wesen der historisch handelnden Personen genau anschaut, kommt man zu dem Schluß, daß in Wirklichkeit Aristides die entscheidende Person war. Nur einem erhabenen Charakter wie ihm konnte es gelingen, das „Undenkbare“ möglich zu machen: eine neue Friedensordnung!

Das Wesen von Themistokles beschreibt Plutarch als „gewandt, keck, hinterlistig, - ein Wesen, das mit Leidenschaftlichkeit und ohne Umstände auf Alles losfuhr.“ Er war offensichtlich von den „Affekten“ dominiert, die laut Schiller zur „Natur“ zählen und nichts mit Freiheit des Willens zu tun haben. Er war in seiner Jugend von den Sophisten beeinflußt und sehr ehrgeizig. Nach der Schlacht von Marathon raubte Themistokles „des Miltiades Siegesdenkmal“ den Schlaf. Sein Entschluß, noch berühmter zu werden als Miltiades, trieb ihn dazu an, in Athen ein gewaltiges Flottenbauprogramm durchzusetzen.

Aristides, dem Themistokles laut Plutach „bei jedem politischen Schritte in den Weg trat“, hatte ein völlig anderes Wesen. „Seine Natur stand auf einer dauerhaften sittlichen Grundlage, die ihre Richtung auf das Gute festhielt und sich keine Heuchelei, keinen Betrug, auch nur im Scherze, irgendwie gestattete... Er war überzeugt, daß es nur die Sittlichkeit und Gerechtigkeit des Wortes und der Tat sein könne, worauf ein rechtschaffener Bürger sein ganzes Vertrauen setzen dürfe... Bewundernswürdig erschien an ihm die Festigkeit, womit er sich bei allen Wechseln seiner politischen Stellung gleichblieb.“ Das erinnert an Schillers Beschreibung des erhabenen Charakters in Über das Erhabene, der sich auch im Elend treu bleibt und ganz unabhängig von äußeren Einflüssen seine innere Freiheit wahrt. „In allen Lagen – dies war Aristides Überzeugung, - müsse er dem Vaterlande seine Dienste widmen, ohne irgend weder an Geld noch an Ehre einen Dank oder Lohn für seine Tätigkeit zu erwarten.“

Das Verhalten Aristides gegenüber Miltiades beschreibt Plutarch so: „Unter den zehn Feldherren, welche Athen für den Krieg gegen den Perser Datis aufgestellt hatte, genoß Miltiades das größte Ansehen, während Aristides sowohl an Ruhm als auch an Einfluß der Zweite war. Aristides erklärte sich bei der Schlacht völlig mit der Absicht des Miltiades einverstanden. Und weil ferner jeder Feldherr immer nur einen Tag die oberste Gewalt hatte, so trat Aristides, als die Reihe wieder an ihn kam, den Befehl an Miltiades ab, indem er hierdurch den anderen Generalen zu verstehen gab, daß der Gehorsam und die Folgsamkeit gegen einen verständigen Mann, weit entfernt Schande zu bringen, vielmehr zur Ehre und Rettung führt.“ Indem sich Aristides, ohne jegliche Ruhmsucht, von der Vernunft leiten ließ, erzog er die Führer Griechenlands. Damit wurde ein gemeinsames Zusammenwirken erreicht, welches Persien übrigens nach besten Kräften zu hintertreiben versuchte, und Aristides schuf so die Grundlage für die erfolgreiche Verteidigung.

Er bekam auch bald den Beinamen: „Der Gerechte“. Plutarch berichtet: „Aristides hatte nun das Schicksal, daß ihm sein Beiname, nach anfänglicher Liebe, späterhin nur Haß eintrug.“ Dies geschah besonders, seitdem „Themistokles das Gerede aufgebracht hatte“, Aristides habe durch seine vernünftigen Urteile „unvermerkt einen Monarchie gegründet, - nur eben ohne Soldaten!“ Auch inszenierte Themistokles ein Verfahren wegen Unterschlagung gegen Aristides, womit er jedoch politisch nicht durchkam. Später konnte er aber erfolgreich ein Scherbengericht gegen Aristides inszenieren und ihn aus Athen zu verbannen.

Plutarch berichtet: „Als nun in vorliegendem Falle die Stimmen gleichfalls geschrieben wurden, soll ein Mensch, der eben auch nicht schreiben konnte und überhaupt ein roher Bauer war, dem Aristides, als dem Nächsten Besten, seine Tafel hingegeben und ihn gebeten haben: „er möchte ‚Aristides’ darauf schreiben!“ Dieser wunderte sich und fragte: „ob ihm denn Aristides etwas Böses getan habe?“ – „Nein (war die Antwort); ich kenne den Mann gar nicht; aber es ärgert mich, daß man ihn überall den Gerechten heißt!“ Wie Aristides das hörte, sagte er keine Silbe weiter, schrieb den Namen auf die Tafel und gab’s ihm.“

Als drei Jahre später Xerxes gegen Attika heranrückte, hob man das Gesetz auf und erteilte den Verbannten die Erlaubnis zur Rückkehr. Aristides kehrte zurück und bot Themistokles sogar seine Hilfe bei der Rettung des Vaterlandes an. Aristides erhabene Charaktergröße erinnert an die eingangs erwähnte Szene aus Nathan der Weise.

In der Schlacht von Salamis wirkte Aristides entscheidend mit, denn er erkannte die strategische Bedeutung der bereits von den Persern besetzten Insel Psyttalea und eroberte sie mit den tapfersten Soldaten. Nach der Schlacht schlug Themistokles vor, den Persern die Brücken für den Rückzug zu zerstören. Aristides drang darauf, den Feind möglichst schnell aus dem Lande zu jagen, und ihn nicht durch Abschneiden der Rückzugswege zu verzweifeltem Kampf zu zwingen.

Dann schuf Aristides etwas, was einzig er, der von Vernunft geleitete „Gerechte“, tun konnte: Er brachte ein Bündnis zustande, welches dauerhaft die Gefahr der persischen Intervention bannen konnte, den Attisch-Delischen-Seebund. Plutrach schreibt: „Die Griechen hatten zwar schon unter der Oberleitung Lakedämons eine unregelmäßige Beisteuer für den Krieg entrichtet; weil sie aber auch einen bestimmten, verhältnismäßigen Ansatz für jeden einzelnen Staat wünschten, so erbaten sie sich von den Athenern den Aristides und beauftragten ihn, von Land und Einkünften genaue Einsicht zu nehmen, um sodann für jeden Teil den Beitrag nach Kraft und Vermögen festzustellen. Die Vollmacht, womit er walten konnte, war überaus bedeutend. Aristides war jetzt gewissermaßen der einzige Mann, dem Griechenland sein Alles auf die Schultern gelegt hat...Wie man im Altertum das Leben unter Saturnus glücklich pries, so taten es jetzt die Bundesgenossen Athens bei den Abgaben unter Aristides.“ Daß dieser Bund später von Athen zur Errichtung einer Hegemonie in Griechenland benutzt wurde, steht auf einem anderen Blatt

Das Beispiel Aristides zeigt, daß Schillers Geschichtskonzept in Über das Erhabene völlig in Einklang mit dem steht, was er in der Antriffsvorlesung und seinen frühen Werken sagt: „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“! Das Ziel der Geschichte ist nicht von der Natur oder von höheren Wesen vorgegeben, sondern es wird von der schöpferischen Vernunft genialer Menschen in Harmonie mit der Naturentwicklung gesetzt, und es kann somit die individuellen Lebensziele der handelnden Menschen definieren. Deren Lebenswerk kann, von der Zukunft aus rückwärts betrachtet, einen Beitrag zur Geschichte leisten. Dieser kann dann sogar bis in die „alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens“ wirken, welche zum Beispiel „einen Kolumbus voraussetzen“, wie Schiller in seiner Antriffsvorlesung erklärt.

Natürlich wirken die Axiome der Vergangenheit und die historisch entstandene Gesetzessysteme mit Riesenkräften, welche das schwache Individuum erschauern lassen. Nicht jeder ist ein Aristides oder ein Schiller, aber er „kann einen Beitrag leisten“. Der erhabene Charakter weiß: Die Axiome in Geschichte und Natur sind nur das, was ist, sie sind nicht das Wesentliche, das Neue, das, was die schöpferische Vernunft möglich macht, wenn sie aus der Wüste des Urknalls die schönsten Sterne entstehen läßt oder neue Kontinente aus der Lava junger Planeten hervorholt.


VI.


Das Denken einiger Zeitgenossen ist so stark von dem heutigen Kulturpessimismus geprägt, daß sie versuchen, auch bei Schiller eine „geschichtspessimistische“ Einstellung zu finden, um ihn auf diese Weise zum „Modernen“ zu machen. Als Belege zitieren sie aus Über das Erhabene die Stellen, an denen Schiller beschreibt, wie chaotisch, zufällig und unfaßbar die Geschichte für den Verstand sein muß. Sie fürchten die „Freiheit der Gedanken“ und unterschlagen den Standpunkt der Vernunft. Und das, obwohl Schiller ganz ausdrücklich sagt: „Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, und nur aus diesem, ist mir die Weltgeschichte ein erhabenes Objekt.“ Denn sie reißt alle Zügel ab, die ihr der Verstand anlegen will, macht aber dem Vernunftwesen Mensch seine Unabhängigkeit von den Naturgesetzen bewußt.

Durch oberflächliches Anpassen an den Zeitgeist kann man Schiller nicht modern machen. Schiller ist modern, und genau wie man bei der Addition zweier Logarithmen gewiß sein kann, daß Produkt der Numeri zu finden, so ist der große deutsche Dichter Friedrich Schiller, der in seinem Jahrhundert lebte, aber für die Gattung Mensch aller kommenden Jahrhunderte dachte, schrieb und handelte, heute moderner, als mancher Moderne meint.



Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entflohn,
Und der ew'ge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht,
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.



* * * * *



© Ralf Schauerhammer, Weg am Wehrholz 17a, 65529 Waldems


Die hohe Schule der Spontanität

Drei Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer

von Ralf Schauerhammer

Im Folgenden wird der Entstehungsprozess dreier Gedichte von Conrad Ferdinand Meyer betrachtet. Es handelt sich um „Abendrot im Walde“, „Der römische Brunnen“ und „Die tote Liebe“. Bei diesen Gedichten lässt sich der Weg, den der Dichter bei ihrer Entstehung zurückgelegt hat, nachzeichnen, weil die Versionen der Gedichte, die er vor der endgültigen Veröffentlichung erstellt hat, erhalten geblieben sind.

Allen drei Gedichten ist gemeinsam, dass sie sehr spontan wirken, so als seien sie unmittelbar aus dem Gefühl des Dichters in einem Guss aufs Papier geschrieben worden. Betrachtet man die Vorgängerversionen, so belegen diese jedoch, dass die spontan klingenden Meisterwerke das Ergebnis eines langen Arbeitsprozesses sind, der teilweise mehr als 20 Jahre andauerte. Ich vermute, dass darin etwas Grundlegendes über die Dichtkunst sichtbar wird, etwas das nicht nur für Conrad Ferdinand Meyers persönliches Schaffen gilt, sondern in ähnlicher Weise für viele Dichter.

Wenn man die Entwicklung, welche diese Gedichte von Version zu Version nehmen, aufmerksam betrachtet, dann erhält man einen Eindruck davon, wie sehr die Sprache dem Dichter, der Neues möglichst genau und exakt ausdrücken möchte, „im Wege steht“ und welche Anstrengung es ihm macht, dieses „Neue“, das ihm „auf der Zunge liegt“, in aller von ihm gefühlten und geschauten Wahrhaftigkeit, Unmittelbarkeit und „Unsagbarkeit“ auszudrücken.

Ich habe versucht, meine Kommentare möglichst kurz zu halten, sie sollen nur Hinweise und Anregungen für den Leser sein, sich mit den Versionen der Gedichte zu beschäftigen, um selbst zu erspüren, was den Dichter zu den jeweiligen Änderungen bewogen hat.

1. Beispiel: Abendrot im Walde

Dieses Beispiel habe ich in Wolfgang Kayser, „Kleine deutsche Versschule“, gefunden. Der stockende Rhythmus bringt das Gejagtsein zum Ausdruck, so als werde es gerade empfunden und unmittelbar ausgesprochen. Aber auch eine Wende ist erkennbar, und zwar nach dem Gedankenstrich, welche in den beiden abschließenden Fragesätzen ein Moment der Ruhe erkennen lässt.

Abendrot im Walde

In den Wald bin ich geflüchtet,
Ein zu Tod gehetztes Wild,
Da die letzte Glut der Sonne
Längs den glatten Stämmen quillt.

Keuchend lieg ich. Mir zu Seiten
Blutet, siehe, Moos und Stein –
Strömt das Blut aus meinen Wunden?
Oder ist's der Abendschein?


Ein Jahr vor dieser Fassung aus dem Jahr 1883 entstand unter dem Titel „Wund“ eine erste Fassung, welche einen deutlich anderen Charakter hat.

Wund

Zu Walde flücht ich, ein gehetztes Wild,
Indes der Abendhimmel purpurn quillt,
Ich lieg und keuche. Zu mir rinnt herein
Ein stilles Bluten über Moos und Stein.

In dieser Fassung verbreiten die fünfhebigen Jamben ein ruhiges Fließen, welches zu dem Gejagtsein nicht passt. Kayser merkt an: „Der Trochäus (in Verbindung mit der Zeilenverkürzung) gibt der zweiten Fassung ihren bedrängenden, gequälten Charakter.“ Die Zeilenverkürzung ist ganz wesentlich, denn dadurch stoßen die Enden der Zeilen mit männlichem Reim mit den betonten Silben der Folgezeile aufeinander, was hauptsächlich den stoßenden Rhythmus erzeugt.

Noch entscheidender scheint mir, dass die zweite Fassung nicht mehr das beschreibende „Ich liege“ (verbunden mit dem eindeutigen „rinnt herein“) hat, sondern den Leser direkt mit zwei Fragen anspricht, welche zudem eine Ambivalenz der Richtung schaffen. Ist es ein „Ausströmen“ oder ein „Hereinrinnen“ des „Abendscheins“?

Diese Ambivalenz, diese Verbindung aus der Sehnsucht nach Ruhe und dem Gejagtsein, welche auf etwas jenseits beider Zustände Liegendes hindeutet, macht meiner Meinung nach die besondere Qualität dieses Gedichtes aus. Dieses Jenseitige ist schon in der ersten Version da, aber erst in der Form der zweiten Version wird es für den Leser deutlich wirksam.

Da ich nicht genau erklären kann, was es ist, bleibt mir nur übrig zu empfehlen, Conrad Ferdinand Meyers „Abendrot im Walde“ als Gegenstück zu „Wanderes Nachtlied“ von Johann Wolfgang Goethe zu lesen, welches auch die durch die Beruhigung hindurchscheinende Unruhe erspüren lässt, und welches auf diese Weise etwas Größeres erahnen lässt, etwas in dem Ruhe und Unruhe ineinandergefügt sind.

Wenn meine Vermutung stimmt, dann ist es das, was Conrad Ferdinand Meyer ausdrücken wollte, und was ihm in der letzten Fassung auch auszudrücken gelingt, im Grunde auch schon in der ersten Fassung enthalten, aber in einer Weise, die es uns Lesern erst rückblickend durch die letzte Version erkennbar macht. Zusätzlich scheint die letzte Fassung viel spontaner zu sein und man könnte fast meinen, die erste Fassung wäre eine spätere, „nach den Regeln der Dichtkunst“ geglättete Version.

Doch offensichtlich ist es umgekehrt: Erst in der Auseinandersetzung mit dem unmittelbar gefundenen sprachlichen Ausdruck (der zur ersten Version führte) entstand die präzise Form, die wir als spontan empfinden, obwohl sie nicht spontan entstand.

2. Beispiel: Der römische Brunnen

Die folgenden Fassungen des Gedichts habe ich der Internetseite „http://www.pinselpark.org/literatur/m/meyer/poem/aufsteigt.html“ entnommen. Die zeitliche Reihenfolge der Versionen ist anhand der Jahreszahlen nachvollziehbar und zeigt, dass Conrad Ferdinand Meyer über 20 Jahre an diesem Gedicht gearbeitet hat.

Die erste Fassung hat einen beschreibenden Charakter, im Unterschied dazu scheint in der letzten Fassung der Betrachter förmlich mit dem betrachteten Brunnen zusammenzufließen. In der Entwicklung wird jedoch in den beiden auf die ursprüngliche Idee folgenden Versionen (von 1864 und 1865) der beschreibende Charakter erst einmal verstärkt. Doch die Verbindung der in der ersten Fassung noch vereinzelt stehenden Becken der Brunnens erscheint in diesen Versionen schon im Ansatz, was dadurch unterstützt wird, dass die Paarreime durch Kreuzreime ersetzt werden.

In der Fassung von 1869 vollzieht sich eine wichtige Veränderung, die schon die letzte Fassung andeutet. Es treten plötzlich Reime auf, die die Metapher „tragen“: Flut – ruht und in der Fassung von 1870 auch noch in den ersten Zeilen die Reime: ergießt – überfließt. Es fehlt jedoch im Vergleich zur letzten Fassung noch eine Dynamik, welche das Bild des Brunnens so vollständig geschlossen erscheinen lässt, dass alles wie selbsterklärend wirkt.

Das löst Conrad Ferdinand Meyer durch einen genialen Einfall für die erste Zeile. Wahrscheinlich ist ihm aufgefallen, dass das in der Version von 1869 eingeführte Wort „Springquell“ die Aufwärtsbewegung der vorherigen Versionen schwächte, welche bereits durch das Bild des „aufsteigenden Strahls“ eine Dynamik vermittelt, die dem „plätschernden Springquell“ fehlt.

Mit den Anfangsworten „Aufsteigt der Strahl“ erzeugt Conrad Ferdinand Meyer bewusst eine Tonbeugung (er hätte ja auch sagen können „Der Strahl steigt auf“), um eine rhythmische Dynamik anzustoßen, welche die Phrase bis in sechste Zeile der Gedichtes trägt. Zusätzlich wird durch das Wort „fallend“ die Phrase bis zu „wallend“ in der sechsten Zeile durch einen Binnenreim gebunden.

Der römische Brunnen (letzte Fassung 1882)

Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Der römische Brunnen (1870)

Der Springquell plätschert und ergießt
sich in der Marmorschale Grund;
die, sich verschleiernd, überfließt
in einer zweiten Schale Rund.

Und diese gibt, sie wird zu reich,
der dritten wallend ihre Flut,
und jede nimmt und gibt zugleich
und alles strömt und alles ruht.


Der Brunnen (1869)

Der Springquell plätschert und erfüllt
Die Schale, daß sie überfließt;
Die steht vom Wasser leicht umhüllt,
Indem sie's in die zweite gießt;
Und diese wallt und wird zu reich
Und gibt der dritten ihre Flut,
Und jede gibt und nimmt zugleich,
Und alles strömt und alles ruht.


Der Brunnen (1865)

In einem römischen Garten
Verborgen ist ein Bronne,
Behütet von dem harten
Geleucht der Mittagssonne,
Er steigt in schlankem Strahle
In dunkle Laubesnacht
Und sinkt in eine Schale
Und übergießt sie sacht.

Die Wasser steigen nieder
In zweiter Schale Mitte
Und voll ist diese wieder,
Sie fluten in die dritte:
Ein Nehmen und ein Geben,
Und alle bleiben reich,
Und alle Fluten leben
Und ruhen doch zugleich


Der schöne Brunnen (1864)

In einem römischen Garten
Weiß ich einen schönen Bronnen,
Von Laubwerk aller Arten
Umwölbt und grün umsponnen.
Er steigt in lichtem Strahle,
Der unerschöpflich ist,
Und plätschert in eine Schale,
Die golden wallend überfließt.

Das Wasser flutet nieder
In zweiter Schale Mitte,
Und voll ist diese wieder,
Es flutet in die dritte:
Ein Geben und ein Nehmen
Und alle bleiben reich.
Und alle Stufen strömen
Und scheinen unbewegt zugleich.


Rom: Springquell (1860)

Es steigt der Quelle reicher Strahl
Und sinkt in eine schlanke Schal'.
Das dunkle Wasser überfließt
Und sich in eine Muschel gießt.
Es überströmt die Muschel dann
Und füllt ein Marmorbecken an.
Ein jedes nimmt und gibt zugleich
Und allesammen bleiben reich,
Und ob's auf allen Stufen quillt,
So bleibt die Ruhe doch im Bild.


Das Gedicht vermittelt in seiner letzten Fassung die „Schau“ einer logisch nicht begreifbaren, paradoxen Gesamtheit der „fließenden Ruhe“. Ruhe ist dabei nicht nur das Minimum der Bewegung, und die fließende Bewegung nicht einfach nur Un-Ruhe, sondern die Gegensätze Bewegung und Ruhe fallen (in einer „höheren“ Gesamtheit) zusammen.

Die erste Fassung von 1860 versucht das Gemeinte noch in vier Schlusszeilen zu erklären, während es in der letzten Fassung durch eine einfache Feststellung von nur 1 ½ Zeilen viel deutlicher und klarer ausgedrückt wird – „So ist es!“ Das ist jedoch nur möglich, weil die in sich geschlossene Darstellung der verwobenen Brunnenschalen und die rhythmische Dynamik der vorangehenden Zeilen die Voraussetzung dafür schaffen. Während die erste Fassung noch mit dem Wort „Bild“ endet, erübrigt sich dieses Wort in der letzten Fassung, da es dem Dichter gelungen ist, dem Leser die Metapher so deutlich vor Augen zu führen, dass er sie unmittelbar wahrnimmt – er „ist im Bild“.

Genau wie bei dem ersten Beispiel ist es auch bei diesem zweiten Beispiel so, dass der Leser den Eindruck hat, die letzte Fassung sei sprachlich spontaner und unmittelbare als die Vorgängerversionen.

3. Beispiel: Die tote Liebe

Die tote Liebe (endgültige Version)

Entgegen wandeln wir
Dem Dorf im Sonnenkuss,
Fast wie das Jüngerpaar
Nach Emmaus,
Dazwischen leise
Redend schritt
Der Meister, dem sie folgten
Und der den Tod erlitt.
So wandelt zwischen uns
Im Abendlicht
Unsre tote Liebe,
Die leise spricht.
Sie weiß für das Geheimnis
Ein heimlich Wort,
Sie kennt der Seelen
Allertiefsten Hort.
Sie deutet und erläutert
Uns jedes Ding,
Sie sagt: So ists gekommen,
Dass ich am Holze hing.
Ihr habet mich verleugnet
Und schlimm verhöhnt,
Ich saß im Purpur,
Blutig, dorngekrönt,
Ich habe Tod erlitten,
Den Tod bezwang ich bald,
Und geh in eurer Mitten
Als himmlische Gestalt –
Da ward die Weggesellin
Von uns erkannt,
Da hat uns wie den Jüngern
Das Herz gebrannt.


Dieses Beispiel habe ich aus Emil Staigers Aufsatz über Conrad Ferdinand Meyer in „Meisterwerke deutscher Sprache“, der diese Versionen im Nachlass des Dichters fand. Leider gibt es für die Versionen dieses Beispiels keine genauen Zeitangaben, aber Staiger legt die wahrscheinlich Reihenfolge fest und begründet sie so gut, dass ich ihr getrost folge und die vor der endgültigen Fassung entstandenen Versionen von 1 bis 6 zeitlich durchnummeriere.

6 Die tote Liebe

Im Schatten wir
Dem Dorf im Sonnenkuss
(Fast wie das Jüngerpaar
Das ging nach Emmaus,
Dazwischen leise
Redend schritt
Der Meister, dem sie folgten
Und der den Tod erlitt)
So schreitet zwischen uns
Im Dämmerlicht
Unsre tote Liebe,
Die leise spricht.
Sie weiß für das Geheimnis
Ein heimlich Wort,
Sie kennt der Seelen
Allertiefsten Hort.
Sie deutet und erläutert
Uns jedes Ding,
Sie sagt: So ists gekommen,
Dass ich am Holze hing.
Ihr habet mich verleugnet
Und schlimm verhöhnt,
Ich saß im Purpur,
Blutig, dorngekrönt,
Ich habe Tod erlitten,
Den Tod bezwang ich bald,
Und geh‘ in eurer Mitten
Als geistige Gestalt –
Die Weggesellin blieb unerkannte,
Doch hat uns wie den Zweien
Das Herz gebrannt.


5 Die alte Liebe

Wir wanderten wieder auf den alten Wegen
Dem Dorf in letzter Abendglut entgegen,
Wir lassen trauernd einen Raum inmitten
Für unsre Liebe, die den Tod erlitten,
Doch ob wir die verzagten Blicke senken,
Wir müssen an die alte Liebe denken…
Und siehe, plötzlich in der Abendhelle
Begleitet uns eine dritter Weggeselle,
Er weiß die trauten Pfade rings zu nennen,
Er redet freundlich, dass die Herzen brennen:
„Hier lehrt‘ ich euch der Seele tiefste Worte,
Hier speist‘ und tränkt‘ ich euch aus meinem Horte…
Ihr aber habt mich an das Kreuz gebunden,
Und ich verschied an blutgen tiefen Wunden.
Ihr suchet mich in meinen Grabgewanden!
Und kennt mich nicht? Ich bin dem Tod entstanden!



4 Alte Liebe

Wir wanderten wieder auf den alten Wegen
Dem Dorf in Sommerabendglut entgegen,
Wir lassen trauernd einen Raum inmitten
Für unsre Liebe, die den Tod erlitten,
Doch ob wir die verschlossnen Blicke senken,
Wir müssen an die alte Liebe denken –
Und siehe, plötzlich in der Abendhelle
Begleitet uns eine dritter Weggeselle,
Er weiß die trauten Pfade rings zu nennen,
Er spricht mit uns, dass unsre Herzen brennen:
Hier lehrt‘ ich euch des Herzens schlichte Worte,
Hier speist‘ und tränkt‘ ich euch aus meinem Horte;
Ihr habt mich an das Marterholz gebunden
Und ich verschied an blut’gen, tiefen Wunden.
Gefesselt wähnt ihr mich von Todesbanden –
Ich löste mich aus meinen Grabgewanden…


3 Alte Liebe

Wir wanderten wieder auf den trauten Wegen
Wie vormals, unserm stillen Dorf entgegen –
Mir pocht das Herz in immer lautern Schlägen.

Hier lehrte Liebe uns geheime Worte
Und speist‘ und tränkte mich aus ihrem Horte,
Begraben liegt sie auch an diesem Orte.

Wir haben sie gemartert und gebunden
Mit Dornen sie gekrönt in finstern Stunden,
Bis sie verschied an blutgen tiefen Wunden…

Doch wüsst‘ ich nicht, dass sie den Tod erlitten
So glaubt‘ ich, käme dort aus Feldes Mitten
Die alte Liebe wieder hergeschritten,

Und ginge zwischen uns in Abendhelle
Und spräche plaudernd: Kennt ihr diese Stelle?
Und dort die rot bemooste Waldesschwelle?

Die alten Pfade kann sie alle nennen,
Sie hofft und wartet, dass wir sie erkennen –
Hörst du sie reden, dass die Herzen brennen?

Sie löste sich die kalten Grabgewande,…
Sie lebt! Sie lebt! Sie brach die Todesbande…
Und dort glüht Emmaus im Abendbrande!

2 Auferstandene Liebe

Wir wanderten wieder auf den trauten Wegen
Wie vormals, unserm stillen Dorf entgegen –
Mir pocht das Herz in immer lautern Schlägen.

Hier lehrte Liebe uns geheime Worte
Und tränkt‘ und speist‘ uns hier aus ihrem Horte…
Begraben liegt sie auch an diesem Orte.

Wir haben sie gemartert und gebunden
Mit scharfen Dornenspitzen sie umwunden
Bis sie verschied an blutgen, tiefen Wunden.

Doch wüsst‘ ich nicht, dass sie den Tod erlitten
Ich meint‘, es käme dort aus Feldes Mitten
Die alte Liebe wieder hergeschritten,

Und ginge zwischen uns in Abendhelle
Und spräche plaudernd: Kennt ihr diese Stelle?
Und dort die rot bemooste Waldesschwelle?

Wir sind die Jünger, die nach Emmaus gehen…
Fühlst du die Glut von Herz zu Herzen wehen,
Die Liebe wandert mit uns ungesehen.

Sie lebt! Sie lebt! Sie brach die Todesbande!
Sie löste sich die kalten Grabgewande
Und dort glüht Emmaus im Abendbrande.

1 Abendgang

Wir wanderten wieder auf den trauten Wegen
Wie ehemals dem stillen Dorf entgegen,
Mir klopfte das Herz in immer lautern Schlägen.

Und wüsst‘ ich nicht, dass sie den Tod erlitten
Ich meint‘, es käme dort aus Feldes Mitten
Die alte Liebe zu mir hergeschritten,

Und ginge zwischen uns in Abendhelle
Und spräche plaudernd: Kennt ihr diese Stelle?
Und dort die rot bemooste Waldesschwelle?

– Den sie solange Herr und Meister nannten
Sie hielten ihn für einen Unbekannten
Die Jünger, aber ihre Herzen brannten –

– Weißt du, wie unser Herz in Liebe lohte? –
Sie lebt! Sie lebt! Erstanden ist die Tote!
Und dort glüht Emmaus im Abendrote.

Die erste Version hat neben der Beschreibung des gemeinsamen Ganges zwei gegeneinander gesetzte Elemente. Das eine Element ist das Erscheinen der erstorbenen Liebe und das zweite Element ist der Gedanke an den auferstandenen Christus, der den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus erscheint. Bis in die beiden Schlusszeilen stehen beide Elemente nebeneinander. Der emphatische Ausruf: „Sie lebt! Sie lebt! Erstanden ist die Tote! wird gefolgt von: „Und dort glüht Emmaus im Abendrote“.

In den nun folgenden Versionen versucht der Dichter das Nebeneinander der Elemente aufzulösen und sie sprachlich miteinander zu verflechten, da ja beide Elemente in seiner Vorstellung aufs Innigste verbunden sind. Dabei schwächt er in den ersten Versionen den Emmaus-Aspekt ab. Es wird sich zeigen, dass das in die falsche Richtung geht. Erst in der vorletzten Version entschließt sich Conrad Ferdinand Meyer, die „himmlische Gestalt“, welche er noch nicht so zu nennen wagt, in den Vordergrund zu stellen. Das ist ihm möglich, weil er gleichzeitig, durch die Halbierung der Zeilen und die gewollte metrische Freiheit, eine sprachliche Ambiguität schafft, welche es ermöglicht beide Elemente ineinander schweben zu lassen.

Nun sind zur endgültigen Fassung nur noch kleine Veränderungen nötig. Sofort nach dem einleitenden „Entgegen wandeln wir / Dem Dorf im Sonnenkuss,“ erscheint das Bild der Jünger zu Emmaus und deren „Meister“. Dadurch kann jetzt die zu Tode gemarterte Liebe auch (wie der Meister zwischen die Jünger) zwischen das ehemalige Liebespaar treten und sprechen – sehr gehaltvoll sprechen, wenn man das von ihr Gesagte mit der ersten Version vergleicht! – und somit wird die Liebe zunehmend eins mit dem gemarterten Christus. Statt des Ausrufs „Sie lebt“ braucht es nun nur noch: „Da ward die Weggesellin / Von uns erkannt“ und dann ganz selbstverständlich: „Da hat uns wie den Jüngern / Das Herz gebrannt“.

Der Leser spürt, dass es dem Dichter nicht nur um ein romantisches Aufflackern einer alten Liebe geht. Dazu wäre der Tod und die Auferstehung von Jesus Christus in dem Gedicht nicht nötig, ja eher hinderlich. Dieser Bezug ist schon in der ersten Version vorhanden und offensichtlich so wesentlich, dass er sich nicht abschwächen ließ. Conrad Ferdinand Meyer nutzt auf geniale Weise die Gefühlsregung, die bei dem Aufeinandertreffen des ehemaligen Liebespaars aufflammt. Jeder der beiden weiß, dass sie ihre Liebe zugrunde gerichtet haben, aber jeder spürt auch, dass diese Liebe wirkliche Liebe war, da sie in ihnen selbst ein unzerstörbares Potential erzeugt hat, das die Beziehung überdauert. Diese emotionale Gestalt erhebt der Dichter auf geniale Weise durch den biblischen Bezug auf den auferstanden Erlöser zu etwas, was mehr als der Tod ist, mehr als Auferstehung, sondern aus der Verbindung von Tod und Auferstehung das „Wunder“ der Vollendung des Unvollendbaren schauen lässt. Wenn ich hier das Wort „Wunder“ verwende, dann meine ich das in dem Sinne, dass diese Einheit der Vollendung des individuell Unvollendbaren nicht logisch fassbar ist. Doch zum Glück können wir, z.B. in solchen genialen Kunstwerken, dieses „Wunder“ erspüren.

Gerade dieser tiefe Inhalt erfordert die schwebende, fast zitternde Form, welche Conrad Ferdinand Meyer hier gefunden hat. Der Leser hat den Eindruck, dass ihm diese Worte gerade jetzt im Augenblick des Aufschreibens aus der Seele entsprungen sind – das sind sie auch, aber erst nach hartem Ringen mit der Sprache.

Allgemeine Beobachtung

Alle drei Gedichte werden getragen von der Spannung eines Gegensatzes. In „Abendrot im Walde“ ist es Gejagtsein und Abendruhe, in „Der römische Brunnen“ ist es die fließende Bewegung und Ruhe, in „Die tote Liebe“ ist es Sterben und Auferstehung. In allen drei Gedichten wird die Dissonanz diese Spannung in einer Weise aufgelöst, welche dem Leser etwas begreiflich macht, was weder das eine, noch das andere ist, sondern etwas, in dem beide widerstreitenden Begriffe und Gefühle umfassend vereint erscheinen. Dieses bezeichne ich als „die Metapher“ eines Gedichtes (was nichts mit dem üblichen Gebrauch des Wortes im Sinne von metaphorischem, d.h. bildlichem Ausdruck zu tun hat).

In allen drei Beispielen ist erkennbar, dass die Elemente der Metapher beim Dichter von Anfang an vollständig vorhanden sind. Die beiden Bilder, welche in ihrer Verknüpfung den neuen Begriff emotional schaubar machen, sind in allen Beispielen sprachlich jedoch noch nicht genügend ineinander verwoben. Man sieht, wie der Dichter die sprachliche Form immer dichter „verwebt“, bis ihm diese innige Verbindung gelungen ist. Nun wird die Metapher beim Leser wirksam, was dazu führt, dass er den sprachlichen Ausdruck als unmittelbar treffend, spontan und authentisch empfindet.

Ein Brotgelehrter ist kein Bäcker

Diese Tatsache ist recht hilfreich, wenn man versucht zu verstehen, was Poesie wesentlich ausmacht. Bei zusammengesetzten Worten spezifiziert im Deutschen das vorangestellte Bestimmungswort das nachfolgende Grundwort. Eine Hundehütte, ist also eine Hütte für Hunde, ein Mathematiklehrer ist ein Lehrer für Mathematik, ein Brotgelehrter ist ein Gelehrter für Backwaren, insbesondere Brot – müsste man eigentlich denken, man tut es aber nicht. Da offensichtlich nicht das gemeint ist, was die normale sprachliche Regel erwarten lässt, beginnt unser Geist zu spielen und trägt die beiden Begriffe „anderswo hin“, er bildet eine Metapher und stellt dabei die Begriffe „Brot“ und „Gelehrter“ in einen völlig neuen, logisch nicht exakt begründbaren Zusammenhang. Der Gelehrte ist nun plötzlich nicht jemand, der die Kenntnis des Brotbackens hat, sondern jemand, der seine Kenntnis zum Broterwerb nutzt, und es ist im Grunde nebensächlich, was das für eine Kenntnis ist – zufällig könnte es sogar das Wissen über Brot backen sein.

Friedrich Schiller stellt dieser Metapher des Brotgelehrten den „philosophischen Kopf“ gegenüber, ebenfalls eine Metapher, denn der sichtbare „Kopf“ steht als Bild für den unsichtbaren Charakter eines Menschentypus, der sein Wissenssystem immer wieder unbefriedigt einreißt, um „zu immer neuen und schöneren Gedankenformen zu schreiten“, wie Schiller ausführt.

Wenn wir erwachsen werden, lernen wir, in logischen Begriffen zu denken, was sehr sinnvoll ist, um unser Wissen zu ordnen und replizierbar parat zu halten. Es ist jedoch nicht das logische Schlussfolgern, sondern das Denken in Metaphern, mit dem wir wirklich Neues erkennen, benennen und uns aneignen. Dieses metaphorische Denken und synthetische Erkennen ist immer mit Gefühlen verbunden und niemals so nüchtern wie das logische Schließen. Und es geschieht im Großen und Ganzen unbewusst, was nicht immer zu unserem Vorteil sein muss. Der menschliche Geist hat nämlich einen immer wachsamen Dämon im Ausguck, der das logische Ruderwerk in Gang setzt, um in sichere Gewässer zu gelangen, lange bevor peinliche oder unangenehme Dinge überhaupt fragwürdig werden können. Damit werden unmerklich Situationen vermieden, welche uns veranlassen könnten, die ach so geliebten Gewohnheiten zu ändern oder unangenehme Entscheidungen treffen zu müssen. Den „philosophischen Kopf“ hingegen lockt dieser Dämon genau in die unsicheren Gewässer, welche ihm bisher unbekannte Inseln und Schätze zu offenbaren versprechen.

Hans Blumenberg hat seit 1957 die Bedeutung der Metaphorik für die Begriffsbildung in der Philosophie untersucht und schon vor ihm hat Kurt Riezler in einem 1936 veröffentlichten Aufsatz die Bedeutung der Metapher in der Philosophie anhand der Werke von Platon aufgezeigt. Darauf aufbauend sieht Bernhard H.F. Taureck sogar die Notwendigkeit, eine „kritische Ikonologie der Philosophie“ auf der Basis der Metaphorik zu erstellen. Das Interessante daran ist, dass gerade die Philosophie, welche als Wissenschaft so streng auf die Begründung durch logische Begriffe Wert legt, die Bedeutung der Metapher für das Denken erkannt hat und sich bemüht, dieses Thema zu erfassen, welches scheinbar allein ins Reich der Poesie gehört und von der Philosophie gemieden wurde, weil Metaphern angeblich die reinen Begriffe trüben und verwirren. Ist die Angst der Philosophen davor, dass Metaphern die Begriffe trüben, gerechtfertigt? Ich denke nein, denn sie trüben nur dann, wenn es sich um falsche oder schlechte Metaphern handelt. Begriffe bieten ja auch keine Sicherheit vor solchen „Trübungen“, denn oft sind diese unklar, verworren oder sogar falsch.

Wenn die Metapher für die Philosophie von Bedeutung ist, wie viel wichtiger ist sie für die Poesie! Zwar reicht die Metapher allein nicht aus, um einen Text zu einem Werk der Poesie zu machen, sonst wären ja alle Politiker, die von „Friedeseinsätzen“ oder „Rettungsfonds“ reden, Poeten. Es handelt sich hierbei jedoch um schlechte, völlig unpoetische Metaphern, die zum Zweck der Lüge und Verdummung eingesetzt werden. Die gute Metapher hingegen ist ein ganz wesentliches Kriterium, wahrscheinlich sogar sagen DAS Kriterium, der Poesie. Der wahre Poet verwendet Metaphern nämlich, um das Unsagbare zu sagen, um etwas Neues, etwas hinter dem Erfahrungshorizont Liegendes, anzudeuten und zu benennen. Deswegen muss die Metapher des Poeten wahrhaftig sein, und vor allem muss es sich um eine wirklich Metapher handeln und nicht nur um ein Symbol oder Gleichnis.

Was unterscheidet nun die Metapher vom Symbol und vom Gleichnis oder von der Analogie? Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass die Metapher eine neue Synthese schafft und deshalb nicht auflösbar ist. Sie ist viel mehr als nur ein neues Bild oder ein erklärender Vergleich, sondern sie verbindet verschiedene Erfahrungen und Bilder auf eine solche Weise, dass ein Unerfahrbares, Transzendentes, und somit eine Gestalt, eine neue Idee vermittelt wird. Ähnlich wie beim Fremdwort – wir empfinden z.B. Frisör heute nicht mehr als Fremdwort – wird im Lauf der Zeit diese neue „Idee“ dann so bekannt, dass die Metapher gar nicht mehr gesehen wird. Das gilt zum Beispiel auch für das Wort „Idee“ selbst.

Platon benutzte das damalige Wort „anschauen“ (idéa) metaphorisch, um das auszudrücken, was gerade nicht direkt geschaut werden kann, sondern vielmehr hinter den verschiedenen sichtbaren Ausführungen (z.B. eines Bettgestells, welches der Handwerker baut) gleich bleibt und somit als nicht direkt sichtbare Gestalt das Gestalten (z.B. des Handwerkers) lenkt. Heute ist die einst metaphorische „idéa“ zu dem Begriff „Idee“ geworden, den wir so sicher besitzen, dass wir seine metaphorische Herkunft gar nicht mehr spüren.

Die wahre Poesie macht durch diesen metaphorischen Prozess das Unsagbare sagbar, aber natürlich nur dann, wenn es sich um wirklich Unsagbares handelt und nicht nur ein Gleichnis, welches bloß etwas auf neue Weise beschreibt oder gar mystifiziert.

Um diesen Punkt zu verdeutlichen, möchte ich Hannah Arendt (aus „Denken ohne Geländer / Texte und Briefe“) zitieren. Sie schreibt: „Der Entdecker dieses ursprünglich dichterischen Mittels [der Metapher] war Homer, dessen zwei Gedichte [Ilias und Odyssee] voll von allen möglichen metaphorischen Ausdrücken sind. Ich wähle… die Stelle aus der Ilias, wo der Dichter die herzzerreißende Wirkung von Angst und Kummer auf die Menschen mit dem gleichzeitigen Angriff von Winden aus verschiedenen Richtungen auf das Wasser des Meeres vergleicht. Denk dir diese Stürme, die du gut kennst, so scheint der Dichter zu sagen, und du weißt etwas von Kummer und Angst. Bezeichnenderweise gilt die Umkehrung nicht. Wie lange auch jemand an Kummer und Angst denken mag, er erfährt nie etwas über die Winde und das Meer.“

Und dann erklärt Hannah Arendt, dass es genau diese „Nichtumkehrbarkeit“ ist, welche die wirkliche Metapher von „jenem mathematischen Symbol“ unterscheidet, welches Aristoteles fälschlicherweise als Metapher definiert. Sie schreibt: „Eine Metapher kann noch so gut eine ‚vollkommene Ähnlichkeit’ der Beziehung zwischen zwei ‚ganz unähnlichen Dingen’ getroffen haben, so dass sie, da A offensichtlich nicht dasselbe ist wie C und B nicht dasselbe wie D, anscheinend durch die Formel B:A = D:C vollkommen ausgedrückt wird – doch diese Aristotelische Gleichung ist umkehrbar: Wenn B:A = D:C, so folgt C:D = A:B. Bei der mathematischen Formulierung geht die eigentliche Funktion der Metapher verloren, nämlich dass sie den Geist auf die Sinnenwelt zurücklenkt, um die nichtsinnlichen Erfahrungen des Geistes zu erhellen, für die es in keiner Sprache Worte gibt.“

Auf der Grundlagen dieser Erklärung Hannah Ahrendts erkennt man, dass der Unterschied von Metapher und Symbol (welches Aristoteles fälschlich „Metapher“ nannte) darin liegt, dass dem Symbol die synthetische Kraft des schöpferischen fehlt, welche eine wirkliche Metapher auszeichnet. Deshalb lässt sich eine wirkliche Metapher auch nie logisch auflösen und erklären, sondern sie führt beim Erklärungsversuch immer wieder zu neuen Metaphern. Gleichnis und Symbol lassen sich hingegen erklären, da sie genau in der von Aristoteles beschriebenen Weise logisch ersetzbar sind.

Ganz schlecht ist es, wenn das Symbol sogar nur dazu verwendet wird, um zu verwirren, zu interessieren oder zu verschleiern. Dann handelt es sich streng genommen nicht um Poesie, jedenfalls nicht um gute Poesie. Gute Poesie ist hingegen gerade an der Wahrhaftigkeit ihrer Metaphern zu erkennen.

Natürlich ist die Metapher nicht alles, was zur Poesie gehört, die sprachlichen Mittel und Formen müssen hinzukommen. Wer jedoch einmal dem metaphorischen Geist auf die Spur gekommen ist, der wird diese Qualität nicht mehr missen wollen. Und wenn die Metapher fehlt oder falsch ist, wird ihm selbst der mit höchster Eloquenz geformte Text nur wie das Klappern mit Töpfen klingen, aus denen nie eine rechte Mahlzeit kommt. Er wird auch die Poesie nicht in den Worten suchen, welche nur richtig „auszuloten“ sind, denn Worte sind sperrig und spannend, und es erfordert für den Dichter eine Anstrengung, wenn er sie zur Metapher fügt.

Dieser Text will zur tieferen Beschäftigung mit der Metapher anregen. Vielleicht verspürt der eine oder der andere Leser Lust, den gesamten Aufsatz von Hannah Arendt zu lesen, den ich zitiert habe, vielleicht führt ihn das dann zu Kurt Riezlers „Das Homerische Gleichnis und der Anfang der Philosophie“ [Die Antike Zeitschrift für Kunst des klassischen Altertums, Band 12, 1936, Seiten 253-271. Veröffentlicht in „Um die Begriffswelt der Vorsokratiker“ Herausgeber Hans-Georg Gadamer, 1968.], worin er erfahren kann, wie Homer und Shakespeare Metaphern einsetzten, um Entwicklungsmöglichkeiten des Kunstwerks im Kopf des Hörers anzudeuten. Interessant ist auch der Artikel „The Chinese Written Charakter as a Medium for Poetry“ von Ernest Fenollosa, der von Ezra Pound veröffentlicht wurde, weil man darin einen Eindruck erhält, wie sich metaphorische Ausdrücke aus Bilderfolgen entwickeln können, und vieles mehr…

Die ganz wesentliche Frage, was eine wahre und gute Metapher von einer falschen oder schlechten Metapher unterscheidet, bin ich noch gar nicht eingegangen, weil dazu sehr viel mehr Worte nötig sind, als dieser Appetitanreger vertragen hätte. Aber jeder, der die Bedeutung der Metapher für die Poesie erkannt hat, wird diese Frage untersuchen wollen.

Völlig missverstanden würde dieser Text, wenn nun jemand meint, er müsse nun mit dem Metapher-Rasenmäher die schönen Gänseblümchen und kleinen Wortspielereien aus dem Garten der Poesie ausmerzen. Der Zaubergarten der Poesie ist kein geschenktes Paradies, er wurde seit Jahrhunderten und Jahrtausenden von Poeten kultiviert und gepflegt. Er ist vielfältig und reich an immer neuen Blumen und natürlich ziehen sich durch ihn auch die Trampelpfade der Brotgelehrten, aber es wird immer genügend philosophische Köpfe geben, die ihn mit immer neuen und schöneren Gedankenformen bereichern werden.
Ralf Schauerhammer 27.08.2014

Goethes Naturforschung:
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen...

Ralf Schauerhammer


Einleitung

Goethe sah sich selbst nicht nur als Dichter, sondern als Universalgelehrter und deshalb auch insbesondere als Naturforscher und er empfand es als eine Verkürzung seiner Person, nur als Dichter bezeichnet zu werden. Er sagte über sich:

„Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich, im Vaterlande und auch wohl auswärts, als Dichter und lässt mich allenfalls für einen solchen gelten; dass ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und ihren organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig und leidenschaftlich im stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein bekannt noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht worden.“

Im Alter drückte sich der vereinsamte Goethe in einem Gespräch mit Eckermann sogar noch schärfer aus, als er mit bitterem Trotz sagte:

„Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein. Dass ich aber in meinem Jahrhundert in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre der einzige bin, der das Rechte weiß, darauf tue ich mir etwas zugute, und ich habe daher ein Bewusstsein der Superiorität über viele.“

Inwieweit Goethe mit dieser Einschätzung Recht hatte, darüber streiten sich bis heute die Gelehrten. Wenn man die Debatte verfolgt, stellt man mit Erschrecken fest, wie mit der Zeit jeder „seinen Goethe“ herbeizitiert, ob Empiriker, Romantiker, Darwinist, Anthroposoph, Nazi, Anhänger der Frankfurter Schule oder New-Age-Freak, alle zerren sie Goethes Naturforschung herbei, verstehen diese endlich „richtig“ und finden genau, was sie brauchen. Aber Goethe hat allen diesen oberflächlichen „Begreifern“ bereits durch seinen Erdgeist im Faust geantwortet: „Ihr gleicht dem Geist, den ihr begreift, nicht mir!“

Wenn es schon zu Goethes Lebzeiten schwer war, seine naturwissenschaftlichen Arbeiten zu würdigen, dann ist das heute noch viel schwerer. Das klingt paradox. Der Grund liegt darin, dass sich seit damals eine Entwicklung verfestigt, die Goethe erkannte und ablehnte, ohne dass er ahnen konnte, welches Ausmaß sie einmal erreichen sollte. Heute sind – für den Universalisten Goethe völlig unverständlich und inakzeptabel – Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, Kunst und Naturwissenschaft, Herz und Kopf, völlig getrennt.[1]
Goethe sieht in der Trennung von Naturwissenschaft und Kunst einen schweren Fehler. In den Heften Zur Naturwissenschaft schreibt er 1817 warnend: „Nirgends wollte man zugeben, dass Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, dass Wissenschaft sich aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, dass, nach einem Umschwung von Zeiten, beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.“ Das ist genau das, was Schiller in seinem Gedicht „Die Künstler“ mit den Worten ausdrückte: „Nur durch das Morgentor des Schönen / Drangst du in der Erkenntnis Land.“ Und am Ende des Gedichtes schreibt Schiller: „Der Schätze, die der Denker aufgehäufet, / Wird er in euren Armen erst sich freun, / Wenn seine Wissenschaft, der Schönheit zugereifet, / Zum Kunstwerk wird geadelt sein.“

Es geht hierbei nicht um ein romantisches Einerlei, um den Ausgleich zwischen linker und rechter Hirnhälfte oder ähnlichem Quark, den man Goethe bisweilen unterschiebt. Naturwissenschaft, die diesen Namen verdient, ist nach Goethes Meinung nur dann Wissenschaft, wenn sie sich über Technisches und Handwerkliches erhebt und schöpferisch neue Erkenntnis „komponiert“. Solch schöpferisches Denken ist ohne „poetische Leidenschaft“ nicht möglich. Umgekehrt darf Kunst nicht zur reinen Unterhaltung verkommen, nur dann ist sie wirkliche, „schöne Kunst“, wenn sie spielerisch die universellen Gesetze der Schöpfung zum Ausdruck bringt. Für beide ist im menschlichen Geist die gleiche Fakultät verantwortlich, und deswegen kann die eine Form aus der anderen entspringen und sich mit ihr auf höherer Stufe wieder vereinen.

Goethe beton noch einen weiteren Punkt, der für seine Zeit und die unsere von Bedeutung ist. Nicht nur sei es falsch, Natur und Kunst zu trennen, sondern der Mensch selbst darf und kann sich bei der Naturbeobachtung nicht von der Natur lösen. Die „Objektivierung“ der Natur durch die Empiristen, welche dem Menschen die Natur als Ding an sich gegenüberstelle, führt nach Goethes Überzeugung zu der irrigen Meinung, die Natur müsse dem Menschen prinzipiell verschlossen bleiben. Das brachte Goethe in einem Gedicht zum Ausdruck, das er den Physikern explizit ins Stammbuch schrieb. Konkret richtete es sich gegen den bekannten Schweizer Naturforscher Albrecht von Haller, der in seinem Gedicht „Die Falschheit menschlicher Tugend“ behauptete, es sei unmöglich, ins Innere der Natur zu dringen. Goethe markiert die aus Hallers Gedicht zitierten Zeilen mit Anführungszeichen und wendet sie durch seine eigenen Kommentare ins Gegenteil.

Allerdings

Dem Physiker

„Ins Innere der Natur —“
O du Philister! —
„Dringt kein erschaffner Geist.“
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern:
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
„Glückselig! Wem sie nur
Die äussre Schale weist!“
Das hör ich sechzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend, tausend Male:
Alles gibt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einem Male;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.


Genau wie man den der Menschen, wenn man ihn nicht in seiner Gesamtheit betrachtet, gerecht wird, kann man die Natur nur richtig erkennen, wenn man sie als Naturwesen von innen heraus sieht. Das darf, so betont Goethe, die Naturforschung nie aus den Augen verlieren, d.h. die Naturwissenschaft darf nicht ein Subjekt Mensch getrenntes Objekt Natur entgegenstellen. Mit dieser heute kaum nachvollziehbaren Forderung wird man bei der Betrachtung von Goethes Naturforschung immer wieder konfrontiert.

Doch gleich zu Anfang sei denjenigen, die Goethes „Naturverbundenheit“ leichtfertig mit der heutigen „grünen“ Ideologie in einen Topf werfen, folgendes gesagt: Goethe setzte sich zeitlebens entschlossen für den technologischen Fortschritt auf allen Gebieten ein und sah in den technischen Künsten des Menschen keinen Wiederspruch zur Natur, er sah den Menschen nicht, wie es die „grüne“ Ideologie heute tut, prinzipiell als Naturzerstörer, sondern nur den verblendeten Menschen, wie am Ende seines Faust II.


1. Die Entdeckung des Zwischenkieferknochens

Goethes Entdeckung des Zwischenkieferknochens ist ein Paradebeispiel für seine Art, Naturforschung zu betreiben. Der Zwischenkieferknochen ist am Tierschädel im Allgemeinen deutlich zu erkennen. Rechts und links von der Nasenhöhle liegt jeweils ein Knochen, welcher von unterhalb der Augenhöhlen zu den Fangzähnen im Oberkiefer verläuft. Unter der Nasenhöhle werden diese beiden Knochen durch eine Knochenbrücke verbunden, in der normalerweise die vorderen Schneidezähne des Oberkiefers sitzen. Beim Menschen ist, wegen seiner „flachen Schnauze“ und den „verkümmerten“ Fangzähnen, diese Knochenpartie sehr zusammengezogen, weshalb der Zwischenkieferknochen nicht mehr als isolierter Knochen, sondern nur mit dem restlichen Schädel verwachsen zu sehen ist.

Goethe gelingt es, die Existenz dieses Knochens am menschlichen Schädel nachzuweisen. Es geht ihm jedoch nicht um dieses bestimmte Detail, sondern Goethe interveniert in eine Debatte um das Menschenbild, welche damals ausgetragen wurde. Das Fehlen des Zwischenkieferknochens wurde als Beleg für den Unterschied des Menschen vom Tier angesehen. Wem das albern klingt, der sei daran erinnert, dass heute im Bereich der Genetik die gleiche Frage bisweilen auf die gleiche Weise im submikroskopischen Bereich abgehandelt wird, indem der Mensch auf die Bestimmung durch einzelne Gene reduziert wird.

Für Goethe ist klar: Der Mensch ist in jedem Knochen Mensch, und er würde heute sagen, in jedem Gen Mensch. Das besondere an Goethes Arbeit ist auch nicht die Entdeckung des Knochens selbst, sondern dass Goethe zu dessen Entdeckung eine damals völlig neue Forschungsmethode entwickelte, die vergleichende Knochenlehre.

Goethe betrachtet nämlich nicht genauer und immer genauer den menschlichen Schädel, um letztendlich diesen Knochen zu finden, sondern er „vergisst“ vorerst den menschlichen Schädel und betrachtet sich erst einmal alle möglichen Tierschädel – die Schädelknochen des Elefanten, des Tigers, des Affen, verschiedenster Vögel, Fische und Echsen. Immer wieder versucht er, das Entwicklungsgesetz dieser Knochen zu erkennen. Nicht als zeitliche Entwicklung, in der eins aus dem andern entsteht, sondern er sucht nach der zeitlosen Harmonie, durch welche sich die Funktion und Proportion der verschiedenen Schädelknochen ausdrückt. Dadurch gelangt er zu einer „Erfahrung von der höheren Gattung“, er erkennt „ein höheres Prinzip“, welches ihm sofort beim Anblick eines Tierschädels, selbst eines Tieres, welches er noch nie gesehen hat, erkennen lässt, wie der Zwischenkieferknochen im Verhältnis zur Schädelform auszusehen hat. Ja er könnte schließlich ein völlig neues Tier erfinden, und ihm diesen Knochen gesetzmäßig richtig formen. Nachdem er sein geistiges Auge so ausgebildet hat, wendet er sich erneut dem Menschenschädel zu, bei dem dieser Knochen bisher von niemandem gefunden worden war. Und nun „sieht“ er den menschlichen Zwischenkieferknochen klar vor sich und weiß genau, wo feinste Rillen und Knochennähte ihn vom restlichen Schädel trennen. Später wird er diese „vergleichende“ Methode verallgemeinern und den Begriff der Metamorphose in die Naturwissenschaft einführen.

Diese neue Forschungsmethode entspringt Goethes Verständnis vom Universum. Gott offenbart sich in der Natur, und nicht in der überlieferten Heiligen Schrift oder sonstigen nur Eingeweihten wissbaren Weise. Jedes Wesen, auch der kleinste Wurm, ist vollkommen und ein Abbild der gesamten Schöpfung. Der Mensch ist ein Teil der Schöpfung, er ist ihr Höhepunkt, da er als vernunftbegabtes Wesen die Gesetze der Schöpfung erkennen kann. Und so übersendet Goethe am 17.9.1784 seine Entdeckung an C.v.Knebel mit den herrlichen Worten:

„Hier schicke ich dir endlich die Abhandlung aus dem Knochenreiche, und bitte dich um deine Gedanken darüber. Ich habe mich enthalten, das Resultat, worauf schon Herder in seinen Ideen
[2] deutet, schon jetzo mercken zu lassen, daß man nämlich den Unterschied des Menschen vom Tier in nichts Einzelnem finden könne. Vielmehr ist der Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt. Die Übereinstimmung des Ganzen macht ein jedes Geschöpf zu dem, was es ist, und der Mensch ist Mensch sogut durch die Gestalt und Natur der Kinnlade, als durch Gestalt und Natur des letzten Gliedes seiner kleinen Zehe Mensch. Und so ist jede Kreatur wieder nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie, die man auch im ganzen und großen studieren muß, sonst ist jedes einzelne ein todter Buchstabe. Aus diesem Gesichtspunkte ist diese kleine Schrift geschrieben, und das ist eigentlich das Interesse, das darinne verborgen liegt...“

Man muss in der Naturwissenschaft immer die „große Harmonie“ der Schöpfung, von der jede Kreatur „nur ein Ton, eine Schattierung“ ist erforschen. Das ist Goethes Herangehensweise. Welch plattes und lineares Wirkungsdenken liegt dagegen der Darwinistischen These der „Entwicklung“ zugrunde , welche bald darauf mit ihrem Schlachtruf „Der Mensch stammt vom Affen ab!“ Furore machte. Sie entspringt einem eindimensionalen Wirkungsdenken, das Goethe ablehnt. Trotzdem wird Goethe von dem „deutschen Darwin“ Ernst Haeckel zum Vorläufer Darwins gemacht:

„Unter den großen Naturphilosophen, denen wir die erste Begründung einer organischen Entwicklungstheorie verdanken, und welche neben Charles Darwin als die Urheber der Abstammungslehre glänzen, stehen obenan Jean Lamarck und Wolfgang Goethe.“

Der extreme Empirist Emil Du Bois-Reymond hingegen hat sehr richtig erkannt, dass Goethe sich vom Darwinismus „schaudernd abgewandt“ hätte. [3]

Goethe sieht eine sich nach harmonischen Gesetzen in jedem Augenblick verändernde Natur, an der der Mensch Anteil hat. Eine Fixierung oder „Konservierung“ der Natur und einen prinzipiellen und zerstörerischen Widerspruch zwischen Mensch und Natur, wie er heute oft behauptet wird, konnte sich deshalb Goethe gar nicht vorstellen. Die sich immerfort erneuernde und gestaltende Harmonie der Schöpfung ist das Gegenteil des Glaubens einer romantischen „Schäferidylle“ oder einer einstigen „Goldenen Zeit“, einer Offenbarung, welche wir nur durch Überlieferung glauben können. Für Goethe erzeugt sich die Natur jederzeit nach harmonischen Gesetzen neu, der Mensch ist, trotz all seiner Schwächen, im Prinzip gut und das Universum ist für ihn erkennbar. Deswegen soll und kann man forschend die Welt immer besser und tiefer erkennen, aber man kann auch ruhig den natürlichen Kräften des Menschen vertrauen, auch wenn er sich immer wieder irrt und die Natur nie völlig versteht. Denn da der die Natur des Menschen gut ist und er selbst ein Teil der Schöpfung, mit der er harmoniert, gilt für Goethe wie für Schiller: „Was kein Verstand der Verständigen sieht, das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt“.


2. Die Metamorphose der Pflanzen, der Weg zum Urphänomen

Wenn man Goethes Forschungsmethode, mit der er den Zwischenkieferknochen des Menschen entdeckt, weiter entwickelt und auf die gesamte Pflanzenwelt anwendet, dann gelangt man zur Idee der „Urpflanze“ und schließlich zum Goetheschen „Urphänomen“ überhaupt. Dabei entsteht die Idee der Urpflanze so unmittelbar aus dem Studium der verschiedensten Pflanzen, dass sie Goethe als ganz aus der Anschauung gewonnen vorkommt, ja anfänglich äußert er sich fast so, als sei er auf einer „Entdeckungsreise“ zur Urpflanze. Auf seiner Italienreise wird ihm klar, die Urpflanze ist eine Idee – obwohl er selbst dieses Wort (vor seiner Begegnung mit Schiller) niemals benutzt hat und wohl auch später nie benutzt hätte. Die Urpflanze ist ein Formprinzip, eine Art Bauplan, ein Erzeugungsprinzip, nach welchem sich alle Teile der Pflanzen bilden.[4]
Es ist auch nicht zufällig, dass sich diese Vertiefung von Goethes Forschungsmethode zur Zeit seiner Italienreise vollzieht. Die Veränderung seiner Denkweise steht mit der damaligen Lebenskrise Goethes in Verbindung. Als begnadetes Glückskind, dem der Ruf des Volkspoeten geradezu in den Schoß gefallen war, war er nach Weimar gekommen. In den überschaubaren dortigen Kreisen hatte er sich mit Elan daran gemacht, die Welt im Konkreten zu verändern und zu verbessern. Immer mehr Staatsaufgaben wurden ihm übertragen. Vom Standpunkt einer „normalen Karriere“ schien alles wunderbar zu laufen, aber er war gescheitert und floh nach Italien. Er hatte erkennen müssen, dass die Gesellschaft, und insbesondere der Adel, hoffnungslos verrottet waren und selbst die größten politischen Anstrengungen zu keiner dauerhaften Verbesserung führen konnten. Halten wir uns vor Augen: Es war die Zeit der Amerikanischen Revolution und der Französischen Revolution.

Goethe musste für sich selbst neue Tiefe finden, um wieder neue Gestaltungskraft für die Zukunft zu gewinnen. Nun erkennt er die Bedeutung der griechischen Klassik, nicht als historisches Untersuchungsobjekt, sondern als Quelle für die notwendige zukünftige Erneuerung. Für die Naturforschung bedeutet das, dass er seine Methode nicht nur weiterentwickeln, sondern kritisch die menschliche Vernunft und die Erkenntnisfähigkeit beobachten muss. Er konzentriert sich nicht mehr nur auf die erkennende Tat, sondern er fordert, dass der schöpferisch denkende Mensch sich beim Denken „mit Ironie“ selbst über die Schulter schauen müsse. [5]

Wie nötig diese subjektive Distanz für Goethe gewesen sein muss, erkennt man daran, dass er von der Idee der Urpflanze damals geradezu besessen war. Er berichtete zum Beispiel über seinen Aufenthalt in Palermo am 17.4.1787:

„Es ist ein wahres Unglück, wenn man von vielerlei Geistern verfolgt und versucht wird! Heute früh ging ich mit dem festen ruhigen Vorsatz, meine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten, allein, eh ich mich’s versah, erhaschte mich ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen. Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größere Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel und, indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gefildes fiel mir die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte. Eine solche muss es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären.“

Wenig später, im Juni 1787 schreibt er triumphierend in einem Brief aus Rom an Charlotte von Stein:

„Sag Herdern, dass ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nah bin und dass es das Einfachste ist, was nur gedacht werden kann... Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine seiend, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben... Dasselbe Gesetz wird sich auch auf alles übrige Lebendige anwenden lassen.“

Aber was ist denn nun die „Urpflanze“? Obwohl dieses Urphänomen Goethe bildlich vor Augen stand, hat er davon kein „Bildnis“ gemacht. Wie wir später noch bezüglich der ersten Begegnung zwischen Goethe und Schiller sehen werden, unterstützte Goethe seine Erklärung bisweilen „mit einigen Federstrichen“, und es sind einige Zeichnungen Goethes überliefert, aus denen man schließen kann, wie diese Federstriche wohl ausgesehen haben mögen. Wir sehen darauf einen Knoten mit Blatt sowie die Entfaltung der Pflanze in einer Folge solcher Knoten, und schließlich die „zusammenziehende“ Bildung der Blüte, welche im engsten Raum des Samens erneut die Pflanze aus den Keimblatt entstehen lässt.

Das schönste Gemälde der Urpflanze hat uns Goethe jedoch mit einem Gedicht geschenkt, einem Liebesgedicht, welches die Urpflanze vor unserem inneren Auge bildhaft entstehen lässt. Goethe schrieb es am 17./18. Juni 1798 für seine spätere Frau Christiane.

Die Metamorphose der Pflanzen

Dich verwirret, Geliebte, die tausendfältige Mischung
dieses Blumengewühls über den Garten umher;
viele Namen hörest du an, und immer verdränget
mit barbarischem Klang einer den andern im Ohr.
Alle Gestalten sind ähnlich, und keine gleichet der andern;
und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
auf ein heiliges Rätsel. O könnt' ich dir, liebliche Freundin,
überliefern sogleich glücklich das lösende Wort!
Werdend betrachte sie nun, wie nach und nach sich die Pflanze,
stufenweise geführt, bildet zu Blüten und Frucht.
Aus dem Samen entwickelt sie sich, sobald ihn der Erde
stille befruchtender Schoß hold in das Leben entlässt,
und dem Reize des Lichts, des heiligen, ewig bewegten,
gleich den zärtesten Bau keimender Blätter empfiehlt.
Einfach schlief in dem Samen die Kraft, ein beginnendes Vorbild
lag, verschlossen in sich, unter die Hülle gebeugt,
Blatt und Wurzel und Keim, nur halb geformet und farblos;
trocken erhält so der Kern ruhiges Leben bewahrt,
quillet strebend empor, sich milder Feuchte vertrauend,
und erhebt sich sogleich aus der umgebenden Nacht.
Aber einfach bleibt die Gestalt der ersten Erscheinung;
und so bezeichnet sich auch unter den Pflanzen das Kind.
Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet,
Knoten auf Knoten getürmt, immer das erste Gebild.
Zwar nicht immer das gleiche; denn mannigfaltig erzeugt sich,
ausgebildet, du siehst's, immer das folgende Blatt,
ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile,
die verwachsen vorher ruhten im untern Organ.
Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung,
die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.
Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche,
scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.
Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung
an und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin.
Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße,
und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an.
Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke,
und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus.
Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere Stängel,
und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.
Rings im Kreise stellet sich nun, gezählet und ohne
Zahl, das kleinere Blatt neben dem ähnlichen hin.
Um die Achse gedrängt, entscheidet der bergende Kelch sich,
der zur höchsten Gestalt farbige Kronen entlässt.
Also prangt die Natur in hoher, voller Erscheinung,
und sie zeiget, gereiht, Glieder an Glieder gestuft.
Immer staunst du aufs neue, sobald sich am Stängel die Blume
über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.
Aber die Herrlichkeit wird des neuen Schaffens Verkündung;
ja, das farbige Blatt fühlet die göttliche Hand,
und zusammen zieht es sich schnell; die zärtesten Formen,
zwiefach streben sie vor, sich zu vereinen bestimmt.
Traulich stehen sie nun, die holden Paare, beisammen,
zahlreich ordnen sie sich um den geweihten Altar.
Hymen schwebet herbei, und herrliche Düfte, gewaltig,
strömen süßen Geruch, alles belebend, umher.
Nun vereinzelt schwellen sogleich unzählige Keime,
hold in den Mutterschoß schwellender Früchte gehüllt.
Und hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte;
doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an,
daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge
und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei.
Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel,
das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt
Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug:
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.
O, gedenke denn auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
nach und nach in uns holde Gewohnheit entspross,
Freundschaft sich mit Macht aus unserm Innern enthüllte,
und wie Amor zuletzt Blüten und Früchte gezeugt.
Denke, wie mannigfach bald die, bald jene Gestalten,
still entfaltend, Natur unsern Gefühlen geliehn !
Freue dich auch des heutigen Tags! Die heilige Liebe
strebt zu der höchsten Frucht gleicher Gesinnungen auf,
gleicher Ansicht der Dinge, damit in harmonischem Anschaun
sich verbinde das Paar, finde die höhere Welt.


2.1 Goethe und Alexander von Humboldt

Wie entscheidend Goethes Konzept und Methode damals die Naturwissenschaft beeinflusst hat, wird daran deutlich, wie der wohl größte Naturforscher der damaligen Zeit, Alexander von Humboldt, diese aufnahm und weiterführte. Humboldt widmete Goethe 1805 seine „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ und ließ von Bertel Thorvaldsen ein Widmungsblatt zeichnen, welches Goethe in Gestalt eines Apollo festhielt, der durch seine „Metamorphose der Pflanzen“ die „Natur“ entschleiert. In der Tat war diese Widmung kein Lippenbekenntnis oder eine bloße Geste. Alexander von Humboldt schrieb im Mai 1806, nach der Rückkehr von seiner berühmten Forschungsreise durch Südamerika, an Caroline von Wohlzogen (1762-1847) einen Brief, in dem er seines Aufenthalts in Jena gedachte:

„...In den Wäldern des Amazonasflusses wie von einem Hauche beseelt, von Pol zu Pol nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem Gefühle durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war...“

Die Erinnerung bezieht sich auf die Zeit von April 1797, als Alexander von Humboldt eine Woche in Goethes Haus am Frauenplan verbrachte. Es wurden Versuche gemacht, an denen auch Schiller Anteil nahm. Humboldt befolgt den gleichen Grundsatz wie Goethe, allerdings von einem anderen Gesichtspunkt, in seinen „Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse“. Die Herausbildung der sechzehn physiognomischen Grundformen, die zum ersten Mal am Schluss der „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ erschien und in den „Ansichten der Natur“ ausführlicher behandelt wurde, ist eine Weiterführung dessen, was Goethe mit der Urpflanze und der Metamorphose dargelegt hatte.

Ein weiterer Beleg für die enge Geistesverwandtschaft von Alexander von Humboldt und dem Naturforscher Goethe findet sich in der Einleitung zu Humboldts Hauptwerk, dem Kosmos, in welchem er ausführlich aus dem Aufsatz „Fragment über die Natur“ zitiert, der von Goethe 1783 herausgegeben wurde: [6]

„Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen. [7]
Sie schafft ewig neue Gestalten, was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder — alles ist neu und doch immer das Alte. Es ist ein ewiges Leben, Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans Stillestehn gehängt.

Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und Termen und ist immer dieselbe.“


2.2 Schillers „freundliche“ Warnung

Wie bereits erwähnt ging es auch bei der ersten persönlichen Diskussion zwischen Schiller und Goethe am 20.7.1794 in der Naturforschenden Gesellschaft in Jena um die Metamorphose, und als Goethe mit einigen Federstrichen seine Urpflanze vor Schillers „Augen entstehen ließ“, warf dieser ein: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.“ Goethe beschrieb diese „Erste Bekanntschaft mit Schiller“ 23 Jahre nach dem Treffen aus der Erinnerung so: „Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme,... als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: ,Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.’ Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen:… der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: ,Das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe.’ Schiller, der viel mehr Lebensklugheit und Lebensart hatte als ich..., erwiderte darauf als ein gebildeter Kantianer; und als aus meinem hartnäckigen Realismus mancher Anlass zu lebhaftem Widerspruch entstand, so war viel gekämpft und dann Stillstand gemacht; keiner von beiden konnte sich für den Sieger halten, beide hielten sich für unüberwindlich... Der erste Schritt war jedoch getan.“

Dieser Streit um den Begriff der „Idee“ ist ganz wesentlich für die „anschauliche“ Denkart Goethes, und wir haben bereits erwähnt, wie sich Goethe später Schillers Begriffen annähert.

Aus dem Briefwechsel können wir schließen, dass sich Schiller und Goethe in den ersten Tagen ihrer persönlichen Bekanntschaft sehr intensiv über Naturwissenschaft unterhalten haben. Goethe legt im August 1774 einem Brief als Anhang seinen Aufsatz bei „Inwiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne“. In seinem Antwortbrief verweist Schiller auf einen eineinhalb Jahre zurückliegenden Briefwechsel zwischen ihm und Körner. Dieser Verweis bezieht sich auf die sogenannten „Kalliasbriefe“, in denen Schiller seinem „nachsichtigen Freund“ über die Idee der Schönheit als Freiheit in der Erscheinung geschrieben hatte.[8]
Die nächste wichtige Phase der Zusammenarbeit über Fragen der naturwissenschaftlichen Methode zwischen Goethe und Schiller ist wohl Anfang 1798. Damals widmet sich Goethe erneut intensiv der Farbenlehre und bedrängte Schiller geradezu, ihm bei der Klärung epistemologischer Fragen zu helfen. Am 9. Januar 1798 schreibt Goethe an Schiller:

„Indessen habe ich in diesen farb- und freudlosen Stunden die Farblehre wieder vorgenommen... Jetzt hinterdrein sehe ich erst, wie toll die Unternehmung war... Denn selbst jetzt, da ich mich so weit durch- gearbeitet habe, bedarf es noch sehr großer Arbeit, bis ich mein Material zu einer reinen Darstellung bringe... Ich lege einen kleinen Aufsatz bei, der ohngefähr 4 bis 5 Jahre alt sein kann, es wird Sie gewiss unterhalten zu sehen, wie ich die Dinge damals sah...“

Bei dem „kleinen Aufsatz“ handelt es sich um die wohl 1793 entstandene Schrift „Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt“, von dem es sich lohnt, einige Passagen hier anzuführen.

„Sobald der Mensch die Gegenstände um sich he gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder missfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art, die Sachen anzusehen und zu beurteilen, scheint so leicht zu sein, als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und ihm das Leben verbittern.

Der Wert eines Versuchs besteht vorzüglich darin, dass er, Bedingungen mit einem bekannten Apparat und mit erforderlicher Geschicklichkeit jederzeit wieder hervorgebracht werden könne, sooft sich die bedingten Umstände vereinigen lassen...

So schätzbar aber auch ein jeder Versuch einzeln betrachtet seien mag, so enthält er doch nur seinen Wert durch Vereinigung und Verbindung mit andern. Aber eben zwei Versuche, die miteinander einige Ähnlichkeit haben, zu vereinigen und zu verbinden, gehört mehr Strenge und Aufmerksamkeit, als selbst scharfe Beobachter oft von sich gefordert haben... Man kann sich daher nicht genug in acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern: denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erfahrung zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handeln- den Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter...

Ich wage nämlich zu behaupten, dass ein Versuch, ja mehrere Versuche in Verbindung, nichts beweisen, ja dass nichts gefährlicher sei, als irgendeinen Satz unmittelbar durch Versuche bestätigen zu wollen, und dass die größten Irrtümer eben dadurch entstanden sind, dass man die Gefahr und die Unzulänglichkeit dieser Methode nicht eingesehen...“

Schiller antwortet Goethe darauf am 12. Januar 1798, indem er Goethes Grundkonzept befürwortet. Schiller gibt ihm aber auch deutlich den freundschaftlichen Rat mit auf den Weg, seinerseits nicht „die Denkkräfte durch das Objekt zu sehr einzuschränken“ – ein Rat, den Goethe insbesondere bei seiner Behandlung der Farbenlehre nicht ausreichend beherzigt hat. Wir werden bald genauer erkennen, dass der oben zitierte Aufsatz über den „Versuch als Vermittler“ vor allem vor dem Hintergrund von Goethes Auseinandersetzung mit der Newtonschen Methode entstanden ist. Schiller antwortet so:

„Ihr Aufsatz enthält eine treffliche Vorstellung und zugleich Rechenschaft Ihres naturhistorischen Verfahrens, und berührt die höchsten Angelegenheiten und Erfordernisse aller rationellen Empirie, indem er nur einem einzelnen Geschäfte die Regeln zu geben sucht. Ich werde ihn noch sorgfältig durchlesen und überdenken und Ihnen dann meine Bemerkungen mitteilen. Das ist mir z.B. sehr einleuchtend, wie gefährlich es ist, einen theoretischen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen. Es stimmt dies, wie mir däucht, mit einer anderen philosophischen Warnung überein, dass man seine Sätze nicht durch Beispiele beweisen solle, weil kein Satz dem Beispiel gleich ist. Die entgegengesetzte Methode verkennt den essentiellen Unterschied zwischen Naturwelt und der Verstandeswelt ganz, ja sie hebt die ganze Natur auf, indem sie bloß ihre Vorstellung uns in den Dingen und nie umgekehrt finden lässt.

Überhaupt kann eine Erscheinung oder Faktum, die etwas durchgängig vielfach Bestimmtes ist, nie einer Regel, die bloß bestimmend ist, adäquat sein. Ich wollte wünschen, es gefiel’ Ihnen, den Hauptinhalt dieses Aufsatzes auch für sich selbst und unabhängig von der Untersuchung und Erfahrungen, denen er zur Einleitung dient, auszuführen. Sie würden auf eine strengere und reinere Scheidung des praktischen Verfahrens und des theoretischen Gebrauchs bedeutende Fingerzeige geben, man würde dahin gebracht werden sich zu überzeugen, dass nur dadurch die Wissenschaft erweitert werden kann, dass man auf der einen Seite dem Phänomen ohne allen Anspruch auf eine hervorzubringende Einheit folgt, es von allen Seiten umgeht und bloß die Natur in ihrer Breite aufzufassen sucht — auf der andern Seite (und wenn jene erste nur in Sicherheit gebracht ist) die Freiheit der vorstellenden Kräfte begünstiget, das Kombinationsvermögen sich nach Lust daran versuchen lässt, mit dem Vorbehalt, dass die vorstellende Kraft auch nur in ihrer eigenen Welt und nie in dem Faktum etwas zu konstruieren suche. Denn mir däucht, es ist bisher auf zwei entgegengesetzte Arten in der Naturwissenschaft gefehlt worden, einmal hat man die Natur durch die Theorie verengt und ein andermal die Denkkräfte durch das Objekt zu sehr einschränken wollen. Beiden muss Gerechtigkeit geschehen, wenn eine rationale Empirie möglich sein soll, und beiden kann Gerechtigkeit geschehen, wenn eine strenge kritische Polizei ihre Felder trennt. Sobald man die Freiheit der theoretischen Vermögen begünstiget, so kann es nicht fehlen, und die Erfahrung lehrt es, dass die Mannigfaltigkeit der Vorstellungsarten, wodurch sie sich wechselweise einschränken und öfter aufheben, den Schaden gut macht, den der Despotismus einer einzigen stiftet.“


3. Goethes Kampf gegen Newtons Ungeist: Die Farbenlehre

Der umfangreichste Teil der Naturforschung Goethes, geht man von der Zahl der zu den verschiedenen Themen veröffentlichten Seiten aus, beschäftigt sich mit dem Gebiet der Farbenlehre. Und keine seiner Arbeiten wurde derart gelobt und verdammt. Wie wir eingangs gesehen haben, blieb Goethe mit seiner Ansicht der Dinge fast völlig isoliert. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens wurde sein wesentlicher Kritikpunkt an der vorherrschenden empirischen Methode, die Goethe mit der Newton-Schule identifiziert, nicht verstanden. Der Grund dafür wurde bereits in der Einleitung angedeutet. Doch es war nicht nur die Dickköpfigkeit seiner Zeitgenossen, die ihn isolierte. Denn zweitens gelingt es Goethe nicht, eine wirkliche Alternative zu dieser empirischen Methode zu entwickeln, welcher man sich in der Naturwissenschaft getrost überlassen kann. Das liegt ironischerweise daran, dass ausgerechnet auf dem Gebiet des Lichtes, der Farbe und des Sehens die von Goethe in der Biologie so erfolgreich entwickelte und angewandte „anschauende“ Methode des Urphämomens an ihre Grenzen stößt. Daher erklärt sich, dass Alexander von Humboldt, der Goethes Arbeiten auf dem Gebiet der Biologie so offenkundig begrüßte, sich gegenüber Goethes Farbenlehre sehr bedeckt hielt.[9] Doch betrachten wir erst einmal, wie Goethe an die Farbenlehre herangeht und warum er das so tut und nicht anders.


3.1 Das Urphänomen der Farbenlehre

„Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden.“ So schreibt Goethe im Vorwort der ersten Ausgabe seiner Farbenlehre 1810, und er fährt fort:

„In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten, Farben und Licht stehen zwar untereinander in dem genausten Verhältnis, aber wir müssen uns beide als der ganzen Natur angehörig denken; denn sie ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges besonders offen- baren will.“

Und in der nachfolgenden Einleitung fährt er fort:

„Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken. Aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem Äußeren entgegentrete. Hierbei erinnern wir uns der alten ionischen Schule, welche mit so großer Bedeutsamkeit immer wiederholte, nur von Gleichem werde Gleiches erkannt, wie auch der Worte eines alten Mystikers, [10] die wir in deutschen Reimen folgendermaßen ausdrücken möchten:

Wär’ nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt’ uns Göttliches entzücken? [11]

Jene unmittelbare Verwandtschaft des Lichtes und des Auges wird niemand leugnen; aber sich beide zugleich als eins und dasselbe zu denken, hat mehr Schwierigkeit. Indessen wird es fasslicher, wenn man behauptet, im Auge wohne ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt werde.“

Goethe zieht also die Grenze zwischen geistiger „Einbildungskraft“ und physikalischer „Erscheinung“ anders als die „objektive“ empirische Wissenschaft. Das „innere“ Licht „ruht“ im Auge und macht das physikalische Sehen des „äußeren“, d.h. physikalischen Lichtes erst durch eine aktive Handlung möglich, zu der es durch innere oder äußere Anregung veranlasst wird. Konsequenterweise geht Goethe in seiner Untersuchung des Lichtes und der Farben vom Auge aus. [12]

„Wir betrachten also die Farben zuerst, insofern sie dem Auge angehören und auf einer Wirkung und Gegenwirkung desselben beruhen; ferner zogen sie unsere Aufmerksamkeit an sich, indem wir sie an farblosen Mitteln oder durch deren Beihilfe gewahrten [das sind insbesondere die Prismen-Versuche, die Goethe erst an zweiter Stelle untersucht haben will, R.S.]; zuletzt aber wurden sie uns merkwürdig, indem wir sie als den Gegenständen angehörig denken konnten. Die ersten nannten wir physiologische, die zweiten physische, die dritten chemische Farben...

Gegenwärtig sagen wir nur so viel voraus, dass zur Erzeugung der Farbe Licht und Finsternis, Helles und Dunkel oder, wenn man sich einer allgemeinen Formel bedienen will, Licht und Nichtlicht gefordert werde. Zunächst am Licht entsteht uns eine Farbe, die wir Gelb nennen, eine andere zunächst der Finsternis, die wir mit dem Worte Blau bezeichnen. Diese beiden, wenn wir sie in ihrem reinsten Zustand dergestalt vermischen, dass sie sich völlig das Gleichgewicht halten, bringen eine dritte hervor, welche wir Grün heißen. Jene beiden ersten Farben können aber auch jede an sich selbst eine neue Erscheinung hervorbringen, indem sie sich verdichten oder verdunkeln. Sie erhalten ein rötliches Ansehen, welches sich bis auf einen hohen Grad steigern kann, dass man das ursprüngliche Blau und Gelb kaum darin mehr erkennen mag.“

Diese „Steigerung“ des Gelb bzw. Blau ins Rot bezeichnet Goethe später als „eine der wichtigsten Erscheinungen in der Farbenlehre, indem wir ganz greiflich erfahren, dass ein quantitatives Verhältnis einen qualitativen Eindruck unserer Sinne hervorbringe.“

Wieder sucht Goethe nach einem Urphänomen der Farbenlehre. Er denkt so: Absolut durchsichtig ist der leere Raum. Denkt man sich diesen Raum auf eine Weise mit Materie gefüllt, dass das Auge noch keinen Unterschied entdeckt, ist es das „Durchsichtige selbst“, welches „schon der erste Grad des Trüben“ ist. Von da geht es kontinuierlich weiter bis zum Weißen, welches das „vollendete Trübe“ ist. Die Wechselwirkung zwischen trüben Medien mit Licht und Finsternis bringen alle physischen Farben als „abgeleitete Phänomene“ dieses „Urphänomens“ bzw. der beiden Aspekte des „Urphänomens“ (der Wechselwirkung von Trübe mit Licht oder Finsternis) hervor. Farbloses Licht erscheint durch ein trübes Medium hindurch gesehen gelb und mit zunehmender Trübe gelbrot bis hin zu Rubinrot. Finsternis scheint durch ein von auffallendem Licht erhelltes Mittel gesehen blau, und bei dem mindesten Grad von Trübe Violett.

So erscheint zum Beispiel die Sonne mittags (bei geringer Trübe) gelb, morgens und abends (bei starker Trübe) rot. Andererseits erscheint ihm die Finsternis des Weltraums durch das Tageslicht blau, welches umso intensiver ist, je klarer die Atmosphäre ist. [13]
Wie ist es nun mit den Farberscheinungen, die „durch Beihilfe farbloser Mittel“ bei der Brechung von Lichtstrahlen entstehen? Die Newtonsche Theorie führte ja die Entstehung alle Farben auf die unterschiedliche Brechung zurück. Goethe beschreibt in den „Konfessionen des Verfassers“ zur Farbenlehre sehr plastisch, wie er beim Blick durch ein geliehenes Prisma plötzlich und unerwartet nur an den Rändern einen dünnen Farbsaum sieht und nicht, wie er erwartet, die ganze Wand farbig erschien. Er sagt, er habe dadurch „wie durch einen Instinkt sogleich“ erkannt, „dass die Newtonsche Lehre falsch sei.“ Ganz glauben kann man Goethe diese dramatische Geschichte nicht, denn er deutet an der gleichen Stelle durch die Bemerkung über seine Notizen zur Himmelsbläue an, dass er damals schon zu einer ganz anderen Farbentheorie als Newton gekommen war, bei der die Polarität zwischen Licht und Finsternis, von dem das Blaue „nur dem Grade nach“ verschieden sei, eine entscheidende Rolle spielt. Der „enttäuschende“ Blick durchs Prisma auf die weiße Wand soll dem Leser seine Farbenlehre verdeutlichen, bei der das weiße Licht eben nur an Grenzen oder durch das Trübe die verschiedenen Farben hervorbringt.

Von seinem polaren Konzept ausgehend ist Goethe das „gespaltene Spektrum“, welches durch die Newtonsche Voraussetzung des engen Spaltes gerade vermieden wird, das wesentliche Phänomen. An der einen Seite des Spaltes, der „Lichtseite“, erscheint Gelb und dann dessen „Steigerung“ zum Roten, auf der anderen Seite, der „Finsternisseite“, erscheint Blau samt seiner „Steigerung“ Violett, und Grün entsteht schließlich nur als Mischfarbe der beiden, wenn die beiden Kanten des Spaltes nahe genug beieinander sind und sich die beiden Seiten des gespaltenen Spektrums überlagern. Newton sieht das von seiner Hypothese der Farbzerlegung des weißen Lichtes umgekehrt so, dass beim Auseinanderrücken der Kanten des Spaltes in der Mitte durch Überlagerung wieder Weiß entsteht. Deswegen ist auch ein weißes Abbild einer durch ein Prisma betrachteten weißen Wand für Newton völlig normal.

Für Goethe hingegen entstehen die Farberscheinungen, die im Zusammenhang mit der Lichtbrechung wahrgenommen werden, durch die Wechselwirkung zwischen Licht und Finsternis und dem Medium dadurch, dass ein Bild „verrückt“ wird. Dieses Verrücken oder Erzeugen eines „Nebenbildes“ wirkt wie die Trübe, und es entstehen Farberscheinungen.

„Bewegen wir eine dunkle Grenze gegen das Helle, so geht der gelbe breitere Saum voran, und der schmälere gelbrote Rand folgt mit der Grenze. Rücken wir eine helle Grenze gegen eine Dunkle, so geht der breitere violette Saum voraus und der schmälere blaue Rand folgt.“

Dabei unterläuft Goethe ein methodischer Fehler. Der Fehler ist jedoch von einer Art, dass ihn die Vertreter der Newtonschen Schule nicht erkennen. Was er als „Nebenbild“ bezeichnet, gibt es „nur“ als „Idee“, aber gerade nicht als „reales“ physiologisches Phänomen, aus dem nur (auf die von Goethe dargelegte Weise) eine „Anschauung“ hervorgehen kann. Das müsste jedoch nach Goethes Vorstellung unbedingt der Fall sein. Goethe kommt zu den Nebenbildern nämlich in Wirklichkeit nicht durch Anschauung, sondern durch einen (fehlerhaften) Analogieschluss. Er denkt folgendermaßen: Wenn man eine weiße Figur anschaut und dann die Augen schließt, erscheint diese Farbe im Auge dunkel. Ein ähnlicher Komplementär-Effekt tritt auf, wenn man eine graue Figur abwechselnd vor weißem und schwarzem Hintergrund betrachtet. Während man die graue Figur ansieht, erscheint dem Auge der Rand im ersten Fall dunkel und zusammengezogen, im zweiten hell und ausgeweitet. Man nimmt beim Schwarz-Weiß-Sehen also zwei Komplementär-Effekte wahr, einmal die zeitliche Vertauschung von hell und dunkel und zweitens die momentane Ausweitung bzw. Einengung des Bildes abhängig von der dunklen bzw. hellen Nachbarschaft.

Bezüglich des Farbsehens schließt Goethe nun analog und kommt so zu den farbigen „Nebenbildern“. Physiologisch gibt es beim Farbsehen jedoch nur den ersten Effekt, nämlich die Komplementärfarbe, die man sieht, wenn man eine Farbe angesehen hat und dann die Augen schließt. Aber beim Ansehen von farbigen Bildern in verschiedenfarbiger Umgebung entstehen keine ausgeweiteten oder eingezogenen Farbränder. Goethe drückt sich auch recht vage aus:

„Bei genauer Beobachtung dieses Phänomens lässt sich bemerken, dass die Bilder nicht scharf vom Grunde abgeschnitten, sondern mit einer Art von grauem, einigermaßen gefärbten Rand, mit einem Nebenbild erscheinen.“

Eine „Art von grauem Rand“ kann durch das Schwarz- Weiß-Sehen erklärt werden, aber ein wirkliches farbiges „Nebenbild“ entsteht in dem „einigermaßen gefärbten“ Rand nicht. Wenn man die Nebenbilder lediglich als theoretisch-logische Hilfskonstruktion ansieht, dann „funktioniert“ Goethes Erklärung. Da er sich jedoch gerade gegen diese „unanschauliche“ Art der Erklärung wendet, weil sie nicht aus der „realen Anschauung“ entspringt, müsste er sein eigenes Argument eigentlich selbst verwerfen.


3.2 Die Ablehnung von Newtons Experimentum crucis

Nachdem wir jetzt die Grundzüge von Goethes Farbenlehre kennengelernt und kritisch betrachtet haben, müssen wir darstellen, inwieweit Goethe in seiner Kritik von Newtons Vorgehensweise Recht hatte. Goethe wendet sich gegen Newtons Vorgehensweise, welche ein „kompliziertes Experiment“ an die Spitze aller Untersuchungen stellte. Newton verschleiert dem Leser auf diese Weise seine Hypothesen über das Wesen des Lichtes, welche er implizit voraussetzt und welche somit dem Leser untergeschoben werden. Eine derartige Vorgehensweise hält Goethe für unredlich.

Er ist übrigens nicht der erste, der eine derartige Kritik äußert. Der Jesuit Francesco M. Grimaldi, dessen 1666 bekanntgegebene optischen Versuche Newtons optische Arbeiten wesentlich angeregt haben, kritisierte bereits zu Newtons Lebzeiten, dass das „experimentum crucis“ alleine nicht ausreicht, um Newtons radikale Abkehr von der wesentlich durch Leonardo da Vinci geprägten Vorstellung vom Wesen des Lichts und der Farben zu rechtfertigen. Goethe greift diese Vorstellung Leonardos wieder auf. Außerdem waren die „Newtonschen“ Versuche zur Zerlegung des Lichtes auch gar nicht neu, sondern bereits zwei Jahrzehnte zuvor von dem Jesuiten Johann Markus Marci von Kronland ausgeführt worden. [14] Newtons Methode der experimentell-deduktiven Darstellungsweise der 1704 erschienenen „Opticks“, welche Goethe angreift, muss man vor dem Hintergrund von Newtons Welt- und Menschenbild verstehen.

Newtons Universum ist instabil und zerfällt. Störungen zwischen den Planeten führen mit der Zeit zwangsläufig zu Unordnung und Wirrnis. Ja, das ganze Universum würde schlagartig in sich kollabieren, stünde diesem schnellen Zerfall nicht die Trägheit der Masse entgegen. Gott muss deshalb nach Newtons Weltsicht von Zeit zu Zeit eingreifen und das Universum wieder in Ordnung bringen und gerade diese Notwendigkeit des Eingreifens begründet nach Newtons Meinung die Notwendigkeit der Existenz Gottes. Der von Newton postulierte „absolute Raum“ ist als „Sensorium“ für diesen wunderbaren Eingriff Gottes notwendig. Wir verdanken es Leibniz, dass er durch die öffentliche Debatte, zu der er Newton herausforderte und die dieser durch seinen Schreiber Clark führen ließ, diesen Punkt klar dokumentiert hat. Die zentrale Frage dieser Debatte ist folgende. Leibniz wendet ein, dass Newtons Gott ein unvollkommener Gott und ein schlechter „Uhrmacher“ sei, wenn er immer wieder „reparierend“ eingreifen müsse, anstatt das Universum von Anfang an vollkommen und entwicklungsfähig zu schaffen. Newton begegnet diesem Einwand ausdrücklich damit, dass Gott, wenn er ein wahrer Herrscher sei, auch wahrhaft herrschen, d.h. eingreifen können müsse. Newtons Gott ist ein absolutistischer Monarch, Leibniz hingegen betont, dass sich das Universum, wie auch jeder einzelne Mensch, immer weiter vervollkommnen kann. Gott hat die Welt als beste aller Welten geschaffen, d.h. es ist schöpferische Freiheit möglich, weil der Mensch als „Abbild Gottes“ vernunftbegabt ist und das Universum erkennen und die Schöpfung weiterführen kann. Gerade diese schöpferische Vernunft des Menschen beweist die Existenz Gottes und nicht der „wunderbare“ Eingriff.

Entsprechend ist Newtons Bild vom Menschen. Das Menschengeschlecht ist in einem Prozess des Niedergangs. Die ursprüngliche Kultur wurde seiner Meinung nach einigen Weisen in einem goldenen Zeitalter von Gott offenbart. Dieses geheime Wissen wurde von einer jeweils kleinen Zahl von Gelehrten bewahrt und in Mythen verschlüsselt überliefert. Newton studierte intensiv die Schriften des Alchemisten Michael Maier und war dessen Meinung. Newton gestaltet seine eigenen Schriften deshalb entsprechend obskur. Der zu seiner Zeit hegemonialen „principia philosophica“ von Descartes setzt er seine „principia mathematica“ entgegen, wobei die formale mathematische Behandlung, die wir heute als modern empfinden, offenbartes bzw. verschlüsselt überliefertes Symbolwissen ersetzt. [15] Newton verwendet nämlich gerade nicht die Infinitesimalrechnung, welche eine mathematische Behandlung der Mechanik damals hätte rechtfertigen können. Diese neue und leistungsfähige Methode hatte Leibniz damals im Zusammenhang mit der Entwicklung der von ihm über die Mechanik hinausgehenden physikalischen Wissenschaft, der „Dynamik“, geschaffen.[16]

Die experimentell-deterministische Methode, wie sie Newton in seiner „Opticks“, der er als Grunddogma das „experimentum crucis“ voranstellt, entspricht genau dieser „mathematischen“ Methode seiner „principia“. Newton versteckt seine Hypothesen (er behauptet er mache keine Hypothesen) hinter einer Folge von Versuchen, aus denen sich die Wahrheit angeblich ableiten lässt. Als „Axiom“ steht am Anfang das „Experimentum crucis“, aus dem sich angeblich der Rest deduzieren lässt. Goethes Kritik an diesem Missbrauch der „Empirie“ ist in der bereits im Dialog mit Schiller erwähnten Schrift „Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt“ dargestellt.

Der Hauptpunkt, an dem Goethe die Auseinandersetzung um die Farbenlehre aufhängt, ist folgender: Vor Newton galten das weiße Licht als einfaches Phänomen der Optik und die Farben als abgeleitete Erscheinungen. Newton dreht das genau um, für ihn ist das weiße Licht aus den einfachen Grundfarben zusammengesetzt. Heute sagen wir, das monochromatische Licht ist einfach, und verstehen unter monochromatisch die singulären Frequenzen, bei denen Elektronenübergänge in der Materie elektromagnetische Energie abstrahlen.

Eine derartige Betrachtungsweise ist erst seit Joseph Fraunhofers Arbeiten im Jahre 1815 möglich, der diese Spektralfarben im Kontinuum des Sonnenlichtes feststellte. Newtons Definition der „einfachen“ Farbe hat jedoch damit gar nichts zu tun. Aus dem „experimentum crucis“ schließt er unter anderem: Es gibt zwei Arten von Farben, einfache und zusammengesetzte. Die einfachen sind die sieben Farben Rot, Gelb, Grün, Blau, Violett, Orange und Indigo. Scheinbare Veränderungen dieser Farben lassen sich nach Newton durch Mischung verschiedener Strahlen hervorrufen. Und sogar die Primärfarben selbst kann man durch Zusammensetzung verschiedener Strahlen hervorrufen, wobei die Mischung zweier Spektralfarben die zwischen diesen liegende ergibt.

Es ist in der Tat nicht logisch, wenn Newtons einfache Grundfarben auch durch Mischung entstehen können. Und Goethe weist ganz richtig darauf hin, dass sich Newtons einfache Primärfarben durch ein Prisma in verschiedene Farbtöne aufspalten lassen. Völlig unbegründet ist zudem, warum es nach Newton ausgerechnet sieben einfache Farben geben soll, warum nicht drei oder zwölf oder siebzehn? Voltaire, der maßgeblich an der Verbreitung des Newton-Kultes in Europa beteiligt war, berichtet, dass Newton deswegen sieben Primärfarben gewählt habe, weil er dadurch von dem Jesuiten und Alchemisten Athanasius Kircher angeregt worden sei und das Spektrum entsprechend der sieben Töne der Tonleiter aufteilte. Hätte es damals schon die Zwölftonmusik moderner Machart gegeben, hätte sich Goethe vielleicht mit zwölf Newtonschen Primärfarben herumgeärgert.[17]
Wenn man bedenkt, welcher abgeschmackte Kult seit Beginn des 18. Jahrhunderts mit der Person Newtons getrieben wurde, dann wird Goethes Ekel vor dieser „Schule“ verständlich. Man muss sich nur das berühmte Bild in Erinnerung rufen, wo Newton wie im Mittelalter die Heiligen direkt unterhalb von Gott sitzend abgebildet ist mit einem Spiegel in der Hand, in den Gott ihm einen Lichtstrahl sendet. Oder an den Zweizeiler des damaligen Starpoeten Alexander Pope

„Nature and Nature’s law lay hid in night;
God said, let Newton be! And all was light,“

Mit diesem Ausspruch soll der sterbliche Mensch Isaac Newton über die gesamte Schöpfung des Universums erhoben werden.

Die Kritik Goethes an der dominanten Newtonschen Schule in der Naturwissenschaft ist gerechtfertigt, und sie ist es auch in der von ihm geführten Form: Er weigert sich prinzipiell, sich auf dieses Niveau zu begeben.

Doch nun stellt sich folgende Frage: Angenommen Goethe hatte mit seiner radikalen Behauptung Recht, angenommen er war tatsächlich der einzige, der „das Rechte“ auf dem „schwierigen Gebiet der Farbenlehre“ wusste, ist seine Methode dann ein fruchtbarerer Ansatz für die Zukunft der Naturwissenschaft? Das wäre unendlich mehr als eine gerechtfertigte Kritik an einer offensichtlichen Fehlentwicklung und für heute äußerst relevant, ganz gleich was Goethes Zeitgenossen und ihre Nachfahren darüber dachten.

Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass man diese Frage in letzter Konsequenz verneinen muss, und werde im Folgenden versuchen zu erläutern, welche Selbstbeschränkung in Goethes Forschungsmethode für diese negative Antwort verantwortlich ist.


4. Kepler, die Beruhigung beim Urphänomen und nochmals Schillers Warnung

Dazu werde ich Schillers freundliche Warnung nochmals aufgreifen, und zwar vor dem Hintergrund einiger Gedanken von Johannes Kepler, des großen Naturforschers, dem Begründer der modernen Astrophysik. In seinem Hauptwerk Die Weltharmonie beschäftigt sich Kepler in der Vorrede zum IV. Buch damit, wie die Harmonie überhaupt erfahrbar und wissbar sein kann. Er sagt:

„Wenn wir es aber nun als unsere Aufgabe betrachten, die Harmonien in der Natur und in den Bewegungen des Himmels aufzudecken, so denkt die Masse der Philosophen sogleich bei der ersten Erwähnung der Harmonie an eine tönende, für das Ohr wahrnehmbare Musik der Gestirne... (und sucht) nach Gründen... warum die himmlische Musik auf Erden nicht gehört werden kann.“

Stattdessen müsse man, sagt Kepler, mit der Frage beginnen: „Zu welcher Gattung von Dingen ist die Natur oder das Wesen des Harmonischen sowie das Wissen darum zu rechnen?“ Im ersten Kapitel des IV. Buchs erklärt er dann, dass man „unterscheiden muss zwischen der sinnlichen oder der ihr analogen Harmonie und der von allem Sinnlichen losgelösten und reinen Harmonie.“ Denn man „sieht leicht ein, dass man die Natur der Harmonie nicht allein durch die sinnlichen Dinge, z.B. durch Töne oder Gestirnstrahlen, definieren darf. Denn etwas anderes ist der Ton, etwas anderes die bestimmte Ordnung verschiedener Töne... Es können also verschiedene Töne existieren; wenn aber zwischen ihnen nicht eine bestimmte Ordnung besteht, wie sie durch bestimmte Proportionen, also durch etwas Mathematisches, definiert wird, wird zwischen den Tönen keine Harmonie bestehen... Die Ordnung geht also gleichen Schritts mit den Quantitäten und im Besonderen mit der Zahl einher... Daher ist die Zahl in materieller Hinsicht in den Din- gen nichts als diese selbst, wenn nicht der zählende Verstand hinzukommt. Dadurch erst wird die Zahl... der Begriff der Vielheit von Einzeldingen. In gleicher Weise ist auch die Ordnung der Töne und der anderen Sinnendinge, von denen wir hier handeln, nicht etwas anderes als die Mehrzahl der Töne, wenn nicht der Verstand hinzutritt, der der Höhe nach verschiedene Töne miteinander vergleicht.“

Bevor also der sinnlichen Erfahrung harmonischer Gesetze überhaupt möglich ist, muss zuerst im Geist eine innere Harmonie etabliert sein, weil sonst nur ein chaotisches Gewirr von Sinneseindrücken wahrgenommen würde.

In seiner Schrift „Tertius Interveniens“ beschreibt Kepler den Erkenntnisprozess noch deutlicher:

„Das Geschöpf ahmt in seiner Tätigkeit, unbewusst oder bewusst, instinktiv oder verstandesgemäß, den Schöpfer nach, die Erde in der Bildung der Kristalle, die Pflanze mit ihrem formierenden Vermögen im Bau und in der Anordnung ihrer Blätter und Blüten, der Mensch in seiner gestaltenden Tätigkeit. Und all dieses Tun ist wie das Spiel eines Kindes, ohne Absicht, ohne Zweck, aus einem inneren Drang, aus der Freude am Gestalten heraus, daß das Auge sich ergötzt an dem, was da entsteht, und der betrachten- de Geist sich selbes wiederfindet und erkennt in dem, was er geschaffen. Wie Gott der Schöpfer gespielet, also hat er auch die Natur als sein Ebenbild gelernt zu spielen, und zwar eben das Spiel, das er ihr vorgespielt.“

Und schließlich folgendes, was bezüglich Goethes Aussagen in der Farbenlehre besonders relevant ist:

„Wenn der Geist nie eines Auges teilhaftig gewesen wäre, so würde er sich zum Begreifen der außer ihm gelegenen Dinge das Auge fordern und die ihm selbst entnommenen Gesetze zu dessen Bildung vorschreiben (falls er rein und gesund und ohne Hindernisse, d.h. wenn er nur das ist, was er ist). Denn das dem Geist angeborene Erkennen der Quantitäten gibt an, wie das Auge sein muss, und daher ist das Auge so beschaffen, weil der Geist so beschaffen ist, nicht umgekehrt. Doch wozu viele Worte? Die Geometrie, vor der Entstehung der Dinge von Ewigkeit her zum göttlichen Geist gehörig, Gott selbst (denn was ist in Gott, das nicht Gott selbst wäre), hat Gott die Urbilder für die Erschaffung der Welt geliefert, und mit dem Bild Gottes ist sie in den Menschen übergegangen, also nicht erst durch die Augen in das Innere aufgenommen worden.“ [18]

Es ist, als ob Kepler Goethe hiermit zurufe: Es ist nicht das physikalische Licht allein, welches sich das Auge schafft und erklären kann, warum das Auge, so wie es ist, funktioniert; man darf das „geistige“ Licht nicht unter den Scheffel stellen! „Denn das dem Geist angeborene Erkennen der Quantitäten gibt an, wie das Auge sein muss.“ Für die Erkenntnis der Urbilder der Schöpfung, „die Gott in den Menschen übergehen“, ist bei Kepler der schöpferisch spielende Geist das wesentliche.

Das ist eine ganz entscheidende Akzentverschiebung. Währende Goethe die Erkenntnisfähigkeit primär immer von der sinnlichen Wahrnehmung, die er als gegeben voraussetzt, ausgeht, fragt sich Kepler, wie überhaupt sinnliche Wahrnehmung möglich sei, und er kommt zu dem Schluss, dass erst durch den frei spielenden Schöpfergeist, der aus sich „von innen“ heraus Harmoniebegriffe entwickelt, die Harmonie in der Natur wahrnehmen kann.[19]

Das ist genau der Punkt, den Schiller in seiner freundschaftlichen Warnung als Antwort auf die Schrift „Der Versuch als Vermittler“ Goethe zu bedenken gibt, nämlich dass man „die Denkkräfte durch das Objekt“ nicht „zu sehr einschränken“ darf. Denn „sobald man die Freiheit der theoretischen Vermögen begünstiget, so kann es nicht fehlen, und die Erfahrung lehrt es, dass die Mannigfaltigkeit der Vorstellungsarten, wodurch sie sich wechselweise einschränken und öfter aufheben, den Schaden gut macht, den der Despotismus einer einzigen stiftet.“

Die mangelnde „Freiheit der theoretischen Vermögen“ führt letztendlich zur Stagnation. Für Goethe tritt diese bei seiner „Beruhigung im Urphänomen“ ein: Ist das Urphänomen erst „gefunden“, so ist eine „Grenze“ erreicht und der Forscher soll nicht weiterfragen. Aber wurde es denn wirklich nur gefunden? Wurde es nicht durch die menschliche Vernunft erst geschaffen? In der Farbenlehre geht Goethe bezüglich der Endgültigkeit des Urphänomens tatsächlich soweit zu sagen:

„Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Übel, dass man es nicht als ein solches anerkennen will, dass man hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten. Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen; der Philosoph nehme sie in seine Region auf, er wird finden, dass ihm nicht in einzelnen Fällen, allgemeinen Rubriken, Meinungen und Hypothesen, sondern im Grund- und Urphänomen ein würdiger Stoff zu weiterer Behandlung und Bearbeitung überliefert werde.“

Mit welchem Recht kann Goethe das fordern? Wieso soll ich das Urphänomen, welches sich, zugegebenermaßen durch eine sehr ernsthafte Beschäftigung und geniale Auffassungsgabe im Kopfe des Menschen Goethe herausgebildet hat, beruhigen und es in „ewiger Ruhe und Herrlichkeit dastehen“ lassen? Nirgends liefert Goethe eine nachvollziehbare Begründung dafür, und das ist auch ganz unmöglich. Denn jedes Geschöpf hat „als Gottes Ebenbild gelernt zu spielen, und zwar eben das Spiel, das er ihr vorgespielt.“ Das geht mit der von Schiller angemahnten „Freiheit der theoretischen Vermögen“ unbegrenzt weiter.

Ganz offenbar wird die fatale Konsequenz der Selbstbeschränkung auf Goethes anschauendes Erkennen, wenn er in den Aphorismen sagt:

„Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genauste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, dass man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.“

Geradezu paradox wird es, wenn Goethe, der von sich den Anspruch eines Universalisten hat, zu Eckermann sagt:

„Mit Astronomie habe ich mich nie beschäftigt, weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muss, die ein eigenes Leben erfordern und nicht meine Sache waren.“ [20]

Wie kann man das sagen, wenn es um die Erkenntnis der universellen Wahrheit geht? „Das ist nicht meine Sache!“ Gleichzeitig aber legt der gleiche Goethe durch sein praktisches Tun den Grundstein für die Entwicklung der Produktion optischer Gläser, welche in Jena später durch die Produktion astronomischer und optischer „Instrumente“ zu Weltruhm gelangen wird!

Um dieses Paradox zu ergründen, muss man Goethes Attacke auf die falsche „Objektivität“ der empiristischen Naturforschung tiefer verstehen, als er es wohl selbst getan hat. Die Subjektivität der Wissenschaft ist eben nicht allein auf die „subjektiv-sinnliche“ Erfahrung der Welt gegründet, sondern sie bedeutet vor allem die „subjektiv-kreativ-produktive“ Veränderung der Welt durch den Menschen. Der Mensch gewinnt nicht nur betrachtend Phänomene der Natur, sondern durch seine subjektive schöpferische Leistungen, die über alle aus der Natur durch Anschauung gewonnene Phänomene hinaus subjektiv völlig Neues erzeugen können, gestaltet und entwickelt er die Natur. Er schaff z.B. Zustände der Materie, die es zuvor nie gegeben hat, und ohne sein Zutun vielleicht nie geben würde. Das gerade nicht, dass er die Natur mit seiner Technik zerstört, weil er ja bei seinem Tun, wenn er wirklich schöpferisch handelt, „dasselbe Spiel wie der Schöpfer spielen“ muss.

Der Naturforscher Wladimir Wernadski sah genau darin als die entscheidende Frage der Wissenschaft, er sagte: „Menschliches Denken hat den Trend der Naturprozesse in einer jähen Weise verändert und hat sogar das verändert, was wir Naturgesetze nennen.“ Darin, in dieser physikalischen Wirkung individueller schöpferischer Denkakte, liegt die wirkliche „Subjektivität“ der Naturwissenschaft, welche nicht beim geschauten Urbild stehen bleiben kann.


5. Schlussbemerkung

Geradezu tragisch ist es, wenn man das bittere Zitat, das der vereinsamte alte Goethe der Newton-Schule entgegenschleuderte, er sei der „Einzige“, der in der Farbenlehre das „Rechte“ wisse, vor dem Hintergrund der Geschichte sieht vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung der Optik sieh. Während Goethe dieses trotzige „ich bin der Einzige“ sagte, hatte die Newtonsche Optik in Wirklichkeit schon durch die Arbeiten des jungen Augustin Jean Fresnel den Todesstoß erhalten. Aber Goethe konnte diesen Sieg über seinen „Erzfeind“ nicht erkennen. Johann Salomo Christoph Scheigger, der einzige Naturwissenschaftler, der sich überhaupt noch mit Goethe über Fragen der Optik unterhielt, erkannte die Bedeutung der Fresnelschen Arbeiten nicht, sondern sah in Fresnels „Prinzipien der Interferenz“ fälschlicherweise nichts anderes als Goethes „Prinzipien des Schattenden“.

Goethe erzielte für die Naturwissenschaft in einzelnen Feldern wesentliche Fortschritte, vor allem in der Biologie. Er hat neue fruchtbare Methoden eingeführt, er hatte — soweit er sie trieb — mit seiner Kritik der dominanten Newtonschen empiristischen Dogmatik Recht. Man tut ihm jedoch keinen Gefallen, wenn man ihn heute zum Stammvater einer romantischen Naturbetrachtung zu machen versucht. Ich habe versucht, mich ehrlich mit seinen Forschungen und Ansichten auseinanderzusetzen, und hoffe sehr, dass ich dabei diesem großen Mann gerecht wurde.

Anmerkungen

1. ^ Max Webers Aufsatz „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“. Darin charakterisiert er die Naturwissenschaft durch Reduktion auf „exakt messbare Quantitäten“, wodurch diese auf „potentielle Urteile von genereller Gültigkeit“ komme. Die Geisteswissenschaften konzentrierten sich hingegen auf die „qualitativ-charakteristische Einmaligkeit“ der Dinge und führten zum „individuellen Dingbegriff von historischer Bedeutung“. In unserem Jahrhundert wurde dieser Graben zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft sogar zum Unterschied zweier verschiedener Kulturen ausgeweitet, wie es Charles Percy Snow in dem Aufsatz „Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz“ behauptet.

2. ^ Gemeint sind Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“.

3. ^ Emil Du Bois-Reymond, der in seinen „Welträtseln“ die prinzipielle Beschränktheit des menschlichen Geistes behauptete, brachte Goethes Forschungsmethode offensichtlich so zur Weißglut, dass er seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Berlin (1882) den Titel „Goethe und kein Ende“ gab, die er mit folgender Tirade gegen Goethe abschloss: „(Goethe) verschwindet... neben dem Dichter als Naturforscher“, und empfahl, „man sollte letzteren endlich ruhen lassen, anstatt ihn immer wieder der urteilslosen Menge übertrieben anzupreisen und die Gegenrede mehr kritisch gestimmter herauszufordern... Vom Darwinismus, der durch die Urzeugung an die Kant-Laplacesche Theorie grenzt, von der Entstehung des Menschen aus dem Chaos durch das von Ewigkeit zu Ewigkeit mathematisch bestimmte Spiel der Atome,.. hätte Goethe sich schaudernd abgewandt.“

4. ^ Zitat nach Rudolf Virchow, „Göthe als Naturforscher und in besonderer Beziehung auf Schiller“, 1861. Seite 43, dort Fußnote 1: „Wie hatte sich Göthe verändert, als er später seine Forschungen nach dem thierischen Typus schilderte: ,Ich trachte das Urthier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Thieres’“ (sämtl. Werke Bd. 36, S.14).

5. ^ Eine schöne Beschreibung dieser Denkweise, welche nicht nur das Objekt betrachtet, sondern gleichzeitig das denkende Subjekt, findet sich in dem Vorwort (1. Ausgabe 1810) zur Farbenlehre. Dort schreibt Goethe: „Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, dass wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewusstsein, mit Selbsterkenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll.“ Aber in der „exakten“ Naturwissenschaft von heute hat „Ironie“, also etwas Ambivalentes, gar nichts zu suchen.

6. ^ Ursprünglich wurde dieser Text sogar Goethe selbst zugeschrieben. Er stammt aber von Johann Georg Tobler, mit dem Goethe damals eng zusammenarbeitete.

7. ^ Man vergleiche das mit Schillers Gedicht „Der Tanz“.

8. ^ Siehe den Brief Schillers an Körner, Jena, den 8. Febr. 1793.

9. ^ Alexander von Humboldt schrieb belustigt an Karl Ludwig Michelet, als er mit Goethe und Schiller zusammen in Jena lebte, er gehöre „zu dem Pöbel“ der zunftgemäßen Physiker, die nicht von Goethes Farbenlehre überzeugt seien. Humboldt fährt fort: „Diesen meinen Unglauben habe ich dem großen Manne oftmals und sehr frei geäußert, ein Unglaube, der sich auf seine geologischen und meteorologischen Phantasien ausdehnte.“ In der Öffentlichkeit verhielt sich Humboldt jedoch anders, was ein Brief an Gottschalk Eduard Guhrauer verdeutlicht: „Da ich mir zum unverbrüchlichen Gesetz gemacht habe, nie ein unfreundliches Wort über Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten zu veröffentlichen, da ich deshalb z.B. der Farbenlehre nie erwähnte, so darf ich wohl die Bitte hinzufügen, meinen Namen in diesen von den Naturphilosophen verheerten, aber noch nicht aufgegebenen Gebieten nicht zu nennen.“

10. ^ Gemeint ist Jakob Böhme.

11. ^ Leonardo da Vinci, den Goethe sehr gründlich studierte, sagt in seinen „Abhandlungen über Malerei“ folgendes: „Hier, genau hier im Auge, hier bildet sich, hier färbt sich der Charakter jedes Teils und alle Dinge des Universums sind in einem einzigen Punkt konzentriert. Wie wunderbar ist dieser Punkt!... In diesem kleinen Raum kann das gesamte Universum reproduziert und in seiner ganzen Großartigkeit neu angeordnet werden!“

12. ^ Für die spätere Diskussion ist interessant, in welcher Weise Goethe bezüglich der tätigen Teilnahme des Auges am Prozess des Sehens Johannes Kepler zitiert. Er sagt, auch Kepler stelle sich die Frage, „ob in der Reaktion der Netzhaut der Grund für die Ausweitung der hellen Bildgestalt liege oder im Geist des Menschen.“ Goethe fährt unvermittelt fort: „Wie dem auch sei...“, weil für ihn selbst die Frage im Grunde schon entschieden ist: das Licht versetzt das Sinnesorgan in Tätigkeit und erzeugt die Ausweitung des Bildes. Für Kepler ist es hingegen eine noch zu klärende Frage, inwieweit das Organ und der Geist aktiv ist.

13. ^ Eigentlich müsste nach seiner Theorie dann auf Bergen der Himmel (wegen der geringeren Trübe) violett werden, was aber nicht der Fall ist.

14. ^ Johann Marcus Marci von Kronland (*1595,21667). In seinem 1648 veröffentlichten Buch „Thaumantis liber de arcus coelesti degue collorum apparentum natura ortu et causis“ (Das Buch von Thaumas handelt vom Himmelsbogen und der Natur der Farben, die erscheinen und auch über ihren Ursprung und ihre Ursachen) definiert Marci die geometrischen und physikalischen Bedingungen, welche für die Entstehung des Regenbogens notwendig sind. Eine Generation vor Newton beschreibt er, wie die Regenbogenfarben durch einen Lichtstrahl erzeugt werden, welcher durch ein Prisma fällt. Er beschreibt auch die Diffraktion von Licht an einem dünnen Draht und der Klinge eines Messers, sowie die Farben der Seifenblasen und des Regenbogens. Alle diese Erscheinungen beschreibt er als Folge der Diffraktion und Reflexion des Lichtes. Newton erwähnt Marcus Marci nicht, obwohl er ihn als Schüler Kirchers gekannt haben muss und wahrscheinlich auch durch die Arbeiten von Descartes, denn Franz Martin Petzel schrieb 1773: „Alle diese (rechtschaffenden Gelehrten in Böhmen und Mähren) aber übertraf unser Marcus Marci, dessen philosophische Erfindungen und durchdringender Scharfsinn den Entdeckungen der neueren und älteren Philosophen gleich kommt. Mehrere behaupten sogar, Carthesius sei durch unsers Marcus Schriften und Beobachtungen veranlasset worden, sein System zu erbauen und habe zu dessen Ausführung nicht wenig daraus entlehnt, welches man bei sorgfältigen Vergleichungen der Werke der beiden gelehrten Männer leicht wahrnehmen kann.“

15. ^ Das im Faust vom Teufel gepriesene „Collegium Logicum“, wo der „Geist dressiert“ und „in spansche Stiefel eingeschnürt“ wird, „dass er bedächtiger fortan, hinschleiche die Gedankenbahn“.

16. ^ Newton hielt das später, nachdem sich die Leibnizsche neue Mathematik allgemein durchgesetzt hatte, jedoch nicht davon ab, eine Kampagne gegen Leibniz zu führen, mit der er die Priorität bei der Erfindung der Infinitesimalrechnung behauptet.

17. ^ Zur „musikalisch-kosmologischen Spekulation“ Newtons siehe „Die Musik in Geschichte und Gegenwart“, Bärenreiterverlag 1954, Sp. 1812ff.

Der „katholische“ Jesuit Athanasius Kircher (*1602, +1680) und der „protestantische“ Rosenkreuzer (die wie Luther im Wappen die Rose und das Kreuz trugen) Robert Fludd sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Entscheidend für die Karriere Kirchers ist, dass er in Aix in den Kreis um Nicholas Claude Fabrie de Peiresc kommt. Peiresc selbst war, wie auch Galileo Galilei, seit 1599 Zögling Pinellis im Studio de Padua. Peiresc erkannte Kirchers „phantastisches“ Talent, mit alten und „geheimen“ Schriften umzugehen, und er sorgte über seine Verbindungen zu Papst Urban VIII. und Kardinal Barberini dafür, dass Kircher 1633 an die Jesuitenuniversität in Rom (Collegio Romano) berufen wurde. Dort „entzifferte“ er angeblich die Hieroglyphen der alten Ägypter, er fand neben vielen ägyptischen Weisheiten, Teilen der Phoenizischen Theologie und der Chaldäischen Astrologie Aussagen der Kabbala, persischen Magie usw. Und so ist es nicht überraschend, das Kircher auch in dem Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen Werk „Oedipus Aegyptiacus“ dem theosophischen System Zoroasters (Zarathustra) die Hälfte seiner Seiten widmet. Als schließlich Champollion im 19. Jahrhundert mit Hilfe des Steins von Rosette tatsächlich die Übersetzung der Hieroglyphen gelang, wurde offensichtlich, dass Kircher außer dem Zeichen für „Wasser“ nichts Richtiges geliefert hatte. Seine ganze „Wissenschaft“ war ein einziger Betrug.

Ein anderer schlimmer Betrug an der Wissenschaft war Kirchers verfälschende Darstellung von Johannes Keplers Werk. Kepler machte in seinen Werken zur Beschreibung der astrophysikalischen Vorgänge wiederholt von der „magnetischen“ Wirkung, welche Gilbert gerade erforscht hatte, metaphorischen Gebrauch. Immer wieder spricht Kepler von einer dem Magneten „ähnlichen“ Wirkung. Außerdem kennt er die gegenseitige Anziehung der Körper durch Gravitationswirkung und beschreibt in diesem Zusammenhang das Phänomen, welches wir heute als Wirkung der Massenträgheit bezeichnen. Der metaphorische Gebrauch der magnetischen Wirkung bei Kepler ist daher ganz unmissverständlich die Beschreibung einer Rotationswirkung, für die er noch keine genauere Erklärung hat, die gerade nicht völlig identisch mit der Magnetwirkung ist, wie sie von Gilbert beschrieben ist. Kircher behauptet nun aber, Kepler meine genau die Gilbertsche Magnetkraft, und entwickelt daraus Widersprüche, welche „beweisen“ sollen, dass Keplers Physik falsch sei. Kirchers Verdrehung war erfolgreich, dass sich ein halbes Jahrhundert später Newton als „Entdecker“ der Graviation für seine Himmelsmechanik feiern lassen konnte, eine Erkenntnis, welche ihm angeblich durch den Fall eines Apfels gekommen sei.

18. ^ Zitiert nach der Biographie „Johannes Kepler“ von Max Caspar, 1948, Seite 320.

19. ^ Kepler lässt dabei durchaus offen, dass es verschiedene innere Harmonien geben kann.

20. ^ Zitiert nach Rudolf Virchow, a.a.O., Seite 21.

LyricChat

hi tom
was ist eigentlich lyrik? ich denke grad darüber nach. du weißt doch viel über literatur und gedichte. warum ist ein gedicht überhaupt ein gedicht? was bewirkt es? steht da irgendwo in deinen schlauen büchern etwas interessantes? im internet finde ich viel, ist aber nichts gutes dabei, glaub ich.
lg ralph

Lieber Ralph,
Das ist eine Interessante Frage. In meinen "schlauen Büchern" steht darüber sehr viel Widersprüchliches geschrieben. Man muss selbst denken und sich dann entscheiden, was richtig ist. Aber warum willst du es überhaupt wissen?
Liebe Grüße
Thomas

hi tom,
ich will dichter werden. du hältst mich nun wahrscheinlich auch für verrückt. Jessi hat gesagt, ich wäre völlig durchgeknallt. aber ich meine es ernst. ein echter dichter, über dinge schreiben, die nicht nur mich betreffen. gedichte die alle angehen und bewegen. du kennst ein paar sachen von mir, und hast sie ok gefunden. aber ok reicht mir nicht. es muss mehr sein als nur hier und heute. ich will dinge sagen und schreiben, für die sich menschen auch noch in hundert oder tausend jahren interessieren oder sich angesprochen fühlen. wie bei shakespeare oder faust von goethe oder homers odyssee – dinge, die bleiben. schon anders, nicht einfach nachgemacht, aber von der wirkung her. ich muss herausfinden, was der trick, ok, was das geheimnis ist. also: was ist lyrik!
lg ralph


Lieber Ralph,
das ist überhaupt nicht verrückt. Ich glaube, du hast das Zeug dazu. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Poesie und habe, wie du weißt, deine Gedichte gründlich und mit Freude gelesen: Du hast Talent.

Nun zu deiner Frage. Es wäre Zeitverschwendung, wenn ich dir alle möglichen und unmöglichen Definitionen herbete, die ich schon gelesen habe, und vor allem gibt es keine, die mir selbst genau zu passen scheint. Lass uns anders vorgehen. Du hast dir doch schon einige Gedanken gemacht. Lass uns einfach darüber diskutieren.
Liebe Grüße
Thomas


hi tom,
jetzt hast du den ball zurückgespielt. ok, wenn du es also auch nicht weißt. eine definition. möglich oder unmöglich, bringt das überhaupt was? was mir vorschwebt, wenn ich an lyrik denke, ist etwas, was ich bei edgar allen poe gelesen habe, das hat mich fasziniert. da steht ein dichter mit jemandem da und sieht im weltall einen ganz wilden stern vorbeiziehen und sagt: den habe ich durch meine rhymes erschaffen. versteht du, worte sind mehr als worte. oder orpheus, der durch die schönheit seines gesangs die natur bewegt hat. am besten finde ich, wie orpheus bei den argonauten den gesang der verführerischen sirenen übersungen hat. nicht nur ohren verstopfen, wie odysseus, sondern den gesang neutralisieren. ich kann mir das so richtig vorstellen, die sirenen machen volksmusik oder schlagerparade oder so etwas ähnliches, und orpheus singt etwas wunderschönes, so schön, dass die leute radio und fernsehen links liegen lassen und nur noch ihm zuhören. es dringt durch wie ein laserstrahl. das ist lyrik!
Lg ralph


Lieber Ralph,
Deine Laser-Metapher finde ich sehr gut. Kohärenz und Resonanz sind für die Funktion des Lasers ausschlaggebend, und dass passt sehr gut zu dem, wie Lyrik wirkt, denke ich.

Wie es schien, besaß Orpheus tatsächlich die Zauberkräfte, die ihm noch heute zugeschrieben werden. Denn, wie Johann Gottfried Herder in einem Aufsatz über "Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtung" schreibt, waren die Griechen damals noch "Wilde" und Orpheus ein "edler Schamane". Wie Mythen und Märchen erklärte und vermittelte auch die Lyrik zwischen Naturkräften und den Menschen, indem sie die allgegenwärtigen Götter und Geister beschwor, besänftigte und erkennbar machte, welche damals das Leben der Menschen genauso bestimmten, wie es heute die Wissenschaft tut. Einige Geister spuken aber auch heute noch herum.

Lyrik war ursprünglich ein zur Leier gesungenes Gedicht. Die Sache war also ganz einfach, wenn da einer alleine mit einer Leier steht und etwas vorträgt, dann ist es Lyrik. Wenn wir aber heute Lyrik sagen, dann meinen wir im Allgemeinen nicht nur einen "Liedtext". Im Angloamerikanischen ist das Wort heute noch näher an dieser ursprünglichen Bedeutung und im Internet findest du "lyrics" fast immer nur in der Bedeutung von "Songtext". Und wirken Rock-Kult-Bands nicht wie Schamanen, zumindest auf ihre Fan-Gemeinde?
Liebe Grüße
Thomas


hi tom,
das mit dem gesang ist doch gar nicht mal so schlecht. bis vor etwa 100 jahren sagte man statt dichter ja auch oft sänger. viele songtexte sind zwar Müll, aber es gibt auch echt gute lyrics. irgendwie wäre das aber doch eingeschränkt. und gedichte werden ja schon lange nicht mehr gesungen, seit dem mittelalter, jedenfalls. jetzt wären deine schlauen bücher vielleicht doch hilfreich – oder?
lg. ralph


Lieber Ralph,
die erste Poetik für die deutsche Sprache hat Martin Opitz geschrieben. Sein "Buch von der Deutschen Poeterey" wurde 1624 veröffentlicht und beschreibt alle möglichen Gattungen von Gedichten: "Epigramme", das sind kurze Satiren, "Hirtenlieder", das sind bäuerlich und einfältig vorgebrachte Gedichte, "Elegien", das sind traurige Gedichte, "Lobgesänge" oder "Hymnen" wurde zum Preis Gottes und Lob philosophischer Werte gedichtet. Unter "Lyriken" versteht er schließlich Gedichte, die man "zur Musik sonderlich gebrauchen" kann. Opitz definiert die Gattungen also vor allem nach dem Zweck, für den sie bestimmt sind. Heute bezeichnen wir Satire, Elegie und Hymne als Unterbegriffe der Lyrik. Lyrik steht heute als Gattung gleichberechtigt neben Epos und Drama und alle Werke der Literatur gehören einer dieser drei Gattungen an. Es ist also, wie du gesagt hast. Der Begriff umfasst viel mehr als singbare Gedichte, aber der Begriff ist auch so ausgeweitet, dass es fast scheint, als fiele jeder Text, der kein Drama und kein Roman ist, der dritten Gattung zu, wäre also Lyrik.
Liebe Grüße
Thomas


hi tom,
das finde ich absolut nicht ok. lyrik als abfalleimer für alles, was nicht drama ist und nicht roman ist, das kann es doch nicht sein. da mache ich es lieber wie opitz: lyrik ist etwas, das singbar ist oder wenigstens sprachlich an gesang erinnert. damit kann ich dann wenigstens etwas anfangen. Wer ist denn eigentlich darauf gekommen, dass es drei gattungen der literatur geben muss? und was soll der grund sein? warum drei und nicht mehr, wie bei opitz? Ich finde das ist schubladendenken.
lg ralph


Lieber Ralph,
immer langsam mit den jungen Pferden. Du wirst doch Goethe nicht Schubladendenken vorwerfen wollen! Er hat diese Einteilung vertreten, und seine Autorität war wohl entscheidend dafür, dass sich diese Meinung durchgesetzt hat und bis heute besteht.
Liebe Grüße
Thomas


hi tom,
ich habe mich schlau gemacht. goethe, die ballade als ur-ei der poesie. es ist doch nicht so blöde, was der olle goethe sagt und mit dem schiller in briefen twittert. interessant finde ich, er schaut gar nicht so sehr auf den text, sondern auf die haltung des dichters und auf die art, wie er das, was er sagt darstellt. der epiker sitzt vor dem publikum und erzählt ein märchen oder sonst eine begebenheit, die normalerweise lange vergangen ist. der rest hört zu. der dramatiker stellt alles so dar, als ob es jetzt gerade passiert. heute ist, mit film, tv, pc, video etc. fast alles drama. ein lyriker, also so verstehe ich Goethe, involviert seine hörer in sein eigenes inneres, genauso wie der sänger zum mitsingen anregt. er bewegt die hörer dazu, seine gefühle nachzufühlen. spiegelneuronen! also, wenn ich den goethe richtig verstanden habe, ist die lyrik die sozialste der drei gattungen, das gefällt mir. lg. ralph

Hallo Ralph,
Goethe war ein sehr charismatischer Mensch, aber kein Schamane mehr wie Orpheus, denn der aufgeklärte Mensch seiner Zeit war inzwischen verständig geworden. Selbst Religion wurde hinterfragt. Aber er war ein Genie, welches, vergleichbar mit dem archaischen Schamanen, die Harmonie des Universums erahnen kann, um sie seinen Mitmenschen auf kunstvolle Weise mitzuteilen. Deswegen ist zu Goethes Zeit die "schöne Kunst" das wesentliche, wenn nicht sogar einzige Mittel zur Verbesserung, zur "Veredelung" des Menschen und der Gesellschaft. Das ist die Grundlage für Goethes "soziale" Vorstellung von Lyrik- Das hat er mit seinem Freund Schiller ausführlich diskutiert.
Viele Grüße
Thomas

hi tom,
wenn man lyrik so sieht wie goethe, dann sind die typischen einsiedler-poeten, die nur ihre individuellen seelenknoten und rätselhaftes bringen, eigentlich gar keine lyriker. eigentlich sind sie auch keine epiker, und dramatiker erst recht nicht. wenn ich mal annehme, dass es zu goethes zeit so war, wie er sagt, dann hat sich danach der begriff davon, was ein lyriker ist, ziemlich verändert. aber die worte für die drei gattungen sind geblieben, obwohl sie vielleicht gar nicht mehr passen. egal, ich finde jedenfalls genau die art, so zu schreiben, als wäre man nur alleine auf der welt, wie ich sie selber hatte und die mich mittlerweile an mir selbst nervt. damit mache ich schluss. ich werde in zukunft für alle singen und mit möglichst vielen zusammen.
lg ralph


Lieber Ralph
Ja, der moderne Dichter ist in der Tat ganz alleine auf der Welt. Die Philosophen haben die Harmonie des Universums zerschlagen und die Verbesserung der Gesellschaft durch Kunst für unmöglich erklärt. Statt "schöner Kunst" blieb nur noch "L'art pour l'art" Der moderne Dichter rettet sich ein wenig Genie bzw. Schamanentum, indem er als vereinzeltes Individuum möglichst losgelöst von allen Gesetzen in den einzelnen Worten das Mysterium sucht, welches der Welt verloren ging. Auch ich vermute, dass das eine Sackgasse ist, und glaube, du hast den richtigen Ansatz gewählt, wenn du versuchst, den allgewaltigen Orpheus in dir wiederzuentdecken.

Ich schicke dir deshalb folgende Worte Schillers (aus "Über Bürgers Gedichte") als Bestätigung und zum Nachdenken: "Begeisterung allein ist nicht genug; man fordert auch die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also wert sein, vor der Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unternehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren".
Liebe Grüße
Thomas


Hi tom,
das ist hart, aber super. muss wohl etwas an mir arbeiten. das relativiert das ganze theoretisieren. einen hohen anspruch hatte der schiller, das ist klasse. und vor allem ist es eine lösung für das einsiedlerproblem. deswegen hast du mir das zitat ja geschickt.
lg ralph


Lieber Ralph,
ja, klasse und klassisch, aber jetzt höre vor lauter Schreck nicht auf, Gedichte zu schreiben, sondern nun erst recht.
Liebe Grüße
Thomas


hi tom,
natürlich nicht! es stimmt doch. jeder ist etwas ganz besonderes. Das herauskehren von individuellem ist deswegen eigentlich albern, man ist ja ein individuum. aber, das ist der knackpunkt, wenn ich, oder irgendwer sonst, etwas schreiben will, was alle anderen genau so bewegt und ergreift wie mich selbst, dann muss ich in mir etwas haben, was auch in anderen ist. Und das geht nur auf eine weise und mit dingen, die ganz menschlich sind für alle. das sagt schiller, und ich finde das ganz logisch. und wenn ich etwas ganz besonderes machen will, muss ich auch selbst erst etwas ganz besonderes sein – also dafür sorgen, dass ich es werde.

ich habe mir übrigens "Über Bürgers Gedichte" besorgt. der arme, der bekommt ganz schön einen drauf. ok, ist schnee von gestern. aber hier ist noch eine stelle, die ist super, ich meine für mich. lies mal das: "Eine der ersten Erfordernisse des Dichters ist Idealisierung, Veredlung, ohne welche er aufhört, seinen Namen zu verdienen. Ihm kommt es zu, das Vortreffliche seines Gegenstandes... von gröbern, wenigstens fremdartigen Beimischungen zu befreien, die in mehreren Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln, einzelne, das Ebenmaß störende Züge der Harmonie des Ganzen zu unterwerfen, das Individuelle und Lokale zum Allgemeinen zu erheben. Alle Ideale, die er auf diese Art im Einzelnen bildet, sind gleichsam nur Ausflüsse eines innern Ideals von Vollkommenheit, das in der Seele des Dichters wohnt" das ist genau das geheimnis von orpheus, du verstehst, der lasereffekt!
lg ralph


Lieber Ralph,
das ist lange her, seit Schiller das schrieb, und es gibt viele Gedanken über Dichtung, die dem widersprechen. Das liegt wohl mehr daran, dass jeder etwas anderes unter Kunst versteht, als daran, dass sich inzwischen der moderne Mensch grundlegend verändert hätte. Übrigens haben wir bisher überhaupt nicht über Dinge wie Reim, Vers- und Strophenform, Metrum, Rhythmus, Prosodie etc. gesprochen. Das ist nicht ganz unwichtig. Goethe sagte: "Wer Großes will, muss sich zusammenraffen. / In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, / Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben."
Liebe Grüße
Thomas


hi tom,
ist ja klar, das können wir später machen, mit beispielen am besten. ich will nicht abwimmeln, im gegenteil. mir ist nun ganz klar, dass ich an mir selbst arbeiten muss und gleichzeitig das handwerkszeug des dichters erlernen muss. und ich habe schon eine idee bekommen, wie ich nun vorgehen werde. das passt sogar ganz gut zu dem goethe-spruch. ich werde gedichte von den guten übersetzen, mein Englisch reicht dazu aus, wahrscheinlich fange ich mit shakespeare an. dabei lerne ich bestimmt eine menge. ich bin gerade dabei, etwas zu suchen. verstehst du, ich will metrum, reim, strophen etc. nicht abwürgen. ich hab da ja auch schon einiges gelesen, aber das ist doch immer nur hinterher sinnvoll, wenn man etwas fertiges analysiert. zuerst muss man lernen, etwas zu selbst machen, etwa so, wie die maler die bilder von großen künstlern nachzeichnen und dadurch lernen, damit sie später selbst kreativ wirklich neues malen können. und mit der sprache ist das genauso, wie mit bildern.
lg ralph


hi tom,
ich habe etwas noch besseres gefunden. fragmente! fragmente von schiller. da kann man so richtig sehen, wie aus seinen gedanken gedichte werden. in dem fragment sieht man ganz genau, wie das bei ihm geht. das beste ist folgendes. schiller hatte nämlich auch den plan, ein gedicht auf orpheus zu schreiben und es dann aus irgendwelchen gründen nicht getan. eigentlich schade, aber auch gut, denn ich werde es jetzt schreiben, und versuchen, so gut wie schiller zu sein, jedenfalls soll er sich nicht im grab umdrehen. hier ist das fragment.

Orpheus in der Unterwelt

Gedräng im Orkus, Bewegung, Saitenklang durch das stille Reich.

Orpheus mit der Leier, auf ihn eindrängende Larven, Er immer vorwärts schreitend und mit dem Klang der Saiten sie von sich wehrend. Die Töne der Leier bilden einen Lebenskreis um ihn her, dass er, ein Lebendiger, jugendlich Blühender, ungefährdet durch die Schatten geht, obgleich immer von neuen Scheusalen bedroht. So gelangt er, unter Begleitung zahlloser Schatten, ein mächtig Schreitender, bis zum Thron des stygischen Königs. Erstaunlich, allgemeines über das Abenteuer.

Beschreibung des Lokals; alles geisterhaft, gierig, farb- und gestaltlos.

Er redet den Schattenbeherrscher an und fordert seine Gattin zurück: "Nimm das Alter, aber schone die Jugend" etc. Eindruck seiner Rede, Gebärdung der Schatten, Macht der Leier.

Antwort des Schattenbeherrschers, dass Orpheus seine Macht besingen soll.

Orpheus weigert sich, den Tod zu singen, aber dem Leben stimmt er jetzt ein Lied an. – Der Hymnus auf das Leben, in der Hölle gesungen, vor Toten und Geistern: 1. Das Licht, die Farbe, die Wärme, die Gestalt, die Fülle, die Schönheit. Meer und Land. – Erstaunen der Manen. 2. Der Schall, die Stimme, die Melodie, die Leidenschaft. Refrain. 3. Der Genuss: Leben, Lieben, Beleben! – – –

super! Ich bin schon dabei und habe ein paar ganz gute ideen.
lg ralph


Lieber Ralph,
Respekt! Da hast du dir ja ein hohes Ziel gesteckt, ein hohes Ziel, welches ja nur ein Zwischenziel sein kann, denn dein eigentliches Ziel ist es, so zu schreiben, wie Shakespeare, Goethe und Homer heute schreiben würden, und das in einer schnelllebigen Zeit voller Augenmenschen, die sehr oberflächlich lesen, das ist noch einmal ein großer Schritt! Aber ich glaube, du bist auf dem richtigen Weg. Ich bin auf deine Schiller-Koproduktion gespannt.
Liebe Grüße
Thomas


Hallo Thomas,
ich habe mir gedacht, ich schreibe auch beim Chatten etwas ordentlicher nicht nur beim Dichten. Große Buchstaben machen das Lesen leichter, z.B. Dass dieses nur ein Zwischenziel ist, ist mir klar, es gibt im Grunde doch nur Zwischenziele. Hier ist die Ballade. Hoffentlich schreibst du mir nicht eine Rezension von der Art, wie sie Schiller dem armen Bürger geschrieben hat. Aber so ganz vermiesen kann mir die Orpheus-Ballade keiner. Ich bin jedenfalls vorerst zufrieden damit.

Orpheus in der Unterwelt
nach einem Fragment Schillers

"Charon, lenke deine Fähre
durch des Totenflusses Schlund;
deinen Dienst mir nicht verwehre,
nimm den Lohn aus meinem Mund.
In den Hades muss ich gehen,
muss Euridyke dort sehen."

"Orpheus, dort im Schattenreiche
kennt man nicht die Kraft der Lieder.
Vor der Todesschwelle weiche!
Keiner kehrt vom Hades wieder
in des Lebens Licht zurück –
nicht durch Taten, nicht durch Glück."

Orpheus schlug die goldne Leier,
schilderte mit Trauerklange,
wie sie, fliehend vor dem Freier,
trat auf jene gift'ge Schlange.
"Ach, sie musste grausam sterben,
durch des lüst'ren Gottes Werben!"

Charon bindet los den Nachen,
rudert schweigend durch die Wellen,
rudert in der Hölle Rachen.
Kerberos mit grimmem Bellen
tobt und geifert, fletscht und springt.
Orpheus geht vorbei und singt.

Und es klingt sein helles Singen
vorwärts in die graue Leere,
ohne Wirkung zu vollbringen,
ohne Echo, wie am Meere
kraftlos jeder Ton verweht
und im Rauschen untergeht.

Lauter schlägt er nur die Saiten,
schöner malt er Melodien,
noch entschloss'ner wird sein Schreiten
zu dem styg'schen Throne hin.
Ernst, mit hocherhob'nem Blick
füllt den Raum er mit Musik.

Aus den Winkeln, aus den Ecken
lugen Larven scheu hervor,
staunend, zweifelnd, mit Erschrecken.
Welcher Klang durchdringt das Ohr?
Bringt zurück vergess’ne Zeit,
weckt was, ach, so weit, so weit! –

Überall entsteht Bewegung,
Schatten seufzen, flattern, schwirren,
bald ist überall Erregung,
kaltes Schnarren, Zischen, Klirren:
"Er will uns die Ruhe stören!"
"Ha, er wagt, uns zu betören!"

Orpheus mutig weiterschreitet.
Geister drohend ihn umringen;
doch von Zauberhand geleitet,
weichen sie vor seinem Singen,
bilden eine freie Bahn
bis zu Hades' Thron hinan.

Hades sieht auf Orpheus nieder,
spricht mit kalten Herrscheraugen:
"Spare deine Klagelieder,
die im Schattenreich nichts taugen!
Kannst den Tod nicht übertönen
wie am Meer einst die Sirenen.

Meiner höchsten Macht muss weichen,
was dem Erdenschoß entspringt,
Tiere, Menschen, deinesgleichen,
alles vor mir niedersinkt!
Orpheus! Höre mein Gebot:
Preise meine Macht – den Tod!"

"Nicht dem Tode sing' ich Lieder,
singen will ich nur dem Leben.
Meine Gattin gib mir wieder,
meiner Gattin gib das Leben!"
Orpheus schließt die Augen, singt,
was ihm in der Seele klingt.

"Singen will ich nur dem Leben,
nur der Sonne will ich singen,
will zum Licht das Auge heben
will mich über Wolken schwingen,
will in buntem Farbgewimmel
mich im Tau der Blüten brechen,
blitzen will ich hoch im Himmel,
mächtig wie der Donner sprechen;
will lebendig überschauen
Tal und Berge, Fluss und Auen,
will umschließen um mich her
allumfassend, wie ein Meer."

Staunend stehen alle Mahnen,
sie verspüren das Bedeuten,
sie ergreift ein fernes Ahnen
längst vergess'ner Lebensfreuden.
Orpheus schließt die Augen, singt,
was ihm in der Seele klingt.

"Ich preise dich, du schöner Schall,
das Echo, das der Berg mir bringt,
den Jubel, den die Lerche singt,
das sanfte Rauschen überall.

Ich preis' die heil'ge Melodie,
die aus dem reinen Busen quillt,
das Herz erregt, die Sinne stillt,
dich Seelenknospe Phantasie!

Oh Melodie! Oh süßer Schall!
Wie macht ihr diese Welt so reich,
lebendig klingend, niemals gleich,
im Kleinsten stets ein ganzes All." –

Alle Geister sinnend stehen,
fühlen trauernd mit dem Gatten.
Selbst die Furien vergehen
nur zur ahnungsvollen Schatten.
Orpheus schließt die Augen, singt,
was ihm in der Seele klingt.

"Des Frühlings tändelnde, spielende Triebe
umtummeln die Blüte in trunkener Lust.
Des Sommers Erwärmen bekräftigt die Liebe,
den Samen erziehend in fühlender Brust,
um bald in des Herbstes farbigem Reigen
der Liebe lebendige Früchte zu zeigen.

Oh, lasst meine Gattin, die liebliche Blüte,
im Frühling gerissen zum Hades hinab,
oh lasse, wie sommerlich wärmende Güte,
sie huldreich entsteigen dem finsteren Grab,
lass wachsen und reifen uns Früchte und Glück,
dann kommen wir gerne gemeinsam zurück." –

Seht, Persephone, sie weint,
fleht zu ihrem finstern Gatten,
dass die beiden er vereint
freigibt, aus dem Reich der Schatten!
Orpheus schließt die Augen, singt,
was ihm in der Seele klingt.

"Die Hoffnung durchweht selbst Wüste und Stein
sie findet den glimmenden Kern
und haucht ihm neues Leben ein,
und weist auf den schönsten Stern allein,
damit der glimmende Funken erkennt,
wie groß das kleinste Licht doch brennt.

In Schönheit erzeugt die Liebe ein Lied,
eröffnet die ehrliche Brust,
bewirkt, dass ohne Unterschied
bald alles nach Herzenslust erblüht,
und selbst zu Schatten in ewiger Nacht
hat Rührung sie und Freude gebracht."

Verwundert spricht der Herr der Schatten:
"Du wagst es, solch ein Lied zu singen,
von Liebe zu dem treuen Gatten!
Du wagst des Todes Macht zu zwingen!" –
Dann schickt er schnell den Sänger fort
und spricht das düstre Richterwort:

"Selbst Schatten rührten deine Lieder.
Es sei gewährt die kühne Bitte.
Ich gebe dir die Gattin wieder.
Sie folge schweigend deinem Schritte;
doch wendest du dich um nach ihr,
bleibt sie für alle Zeiten hier!"


Veröffentlicht: Gedichte-eiland, dieLyriker 31.03.2012

Schillers Jungfrau von Orleans

von Ralf Schauerhammer

In der „Jungfrau von Orléans“ sind verschiedene Ebenen ineinander verwoben. Obwohl sich Schiller in diesem Drama so weit wie in keinem anderen von der Geschichte entfernt, existiert dennoch die historische Jeanne d’Arc. Selbstverständlich gibt es den Bezug auf die politische Situation und die Ereignisse zu Schillers Lebzeit und die Bezüge zur Literatur und Philosophie. Das Drama gilt wohl deswegen als schwierig, weil keine dieser Ebenen überbewertet oder verkürzt werden darf, wenn man versucht, Schillers Wirken und Absicht als Künstler zu verstehen. Dieses wird in dem folgenden Aufsatz versucht.


Einleitung.

Bei der Uraufführung der „Jungfrau von Orléans“ wurde Schiller vom Publikum begeistert gefeiert. Trotzdem wurde das „romantische Trauerspiel“ ausgerechnet von den Romantikern gering geschätzt. Während der Befreiungskriege wurde Johanna zum Vorbild für die Gründung der deutschen Nation erhoben, auch weil zuvor, während der französischen Besatzung durch Napoleon, das Drama über die französische Heldin in Deutschland verboten worden war. Sicher, Schiller idealisiert das Wirken seiner dramatischen Figur Johanna, z.B. indem er die Versöhnung der französischen Partei mit Burgund, welche in Wirklichkeit erst nach dem Tode der historischen Johanna stattfand, als ihr Werk darstellt. Diese Vereinigung war für die Beendigung des Hundertjährigen Krieges der wesentliche Schritt und nicht so sehr die Entsetzung von Orleans. Aber das war kein Grund, Johanna zur Nationalistin zu machen und Schiller zum Nationaldichter zu verkürzen. Reinhard Buchwald sieht in dieser Vereinnahmung Schillers als Nationaldichter das wesentliche Problem der Schillerrezeption in der Zeit, nachdem die deutsche Nation zustande gekommen war. Die nationale Bewertung der Jungfrau war wohl auch der Grund, warum das Drama nach dem Zweiten Weltkrieg, z.B. 1947 durch Gerhard Storz, geradezu als Vergehen an der historischen Jeanne d’Arc angesehen wurde. Es ist jedoch für das Verständnis des heute noch als besonders schwierig geltenden Stücks nicht hilfreich, wenn man Schillers Jungfrau von Orleans mit der historischen oder gar der politischen Brille betrachtet. Im Folgenden wird versucht, einen Zugang zu Schillers Drama zu gewinnen, indem die Verbindung zu den für das Drama relevanten theoretischen Schriften Schillers aufgezeigt wird, also der Zusammenhang mit Schillers Herzensanliegen, die schöne Kunst weiterzuentwickeln.
Warum schuf Friedrich seine „Jungfrau von Orleans“ als „romantisches Trauerspiel“? Schiller hätte nach der Wallenstein-Trilogie und seiner „Maria Stuart“ eine weitere historische Tragödie schreiben können, und er wollte das ursprünglich auch tun. Das geht aus seinem „Brief An***“ vom November 1801 hervor. Er schrieb darin: „Die Jungfrau ist in ihrer Art… ein beneidenswerter Stoff für den Dichter… darum haben sich auch von jeher so viele Dichter und Dichterlinge an ihm vergriffen und versündigt… Gewiss, es kostete mir keinen geringen Kampf, als ich mit den ersten vier Akten fast ganz fertig war, von der Geschichte in das romantische Feld der Möglichkeit überzuschweifen.“ Bereits am 24. Dezember 1800 hatte Schiller an Goethe über die Johanna geschrieben: „Das historische ist überwunden und doch, soviel ich urteilen kann, in seinem möglichen Umfang benutzt, die Motive sind alle poetisch und größtenteils von der naiven Gattung.“ Der Vorwurf, Schiller habe die historische Johanna in seinem Drama nicht ausreichend beachtet, geht genauso ins Leere wie die Historisierung und Politisierung des Dramas. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Gründe Schiller veranlassten, die Geschichte zu „überwinden“? Und wenn dem so ist, sind dann nicht alle Handlungen und Ereignisse auf der Bühne metaphorisch zu betrachten? Zum Beispiel das durch die schicksalsschweren Donnerschläge angekündigte Gewitter. Es erscheint deshalb so wundersam, weil es uns Johannas in die Natur gespiegelten Seelenkampf zeigt, wobei Schiller wahrscheinlich Shakespeares König Lear als Vorbild vor Augen schwebte.

Schillers Antwort auf Voltaires Jungfrau.
Einen Hinweis auf Schillers Absichten gibt das Gedicht „Das Mädchen von Orleans“. Es wurde erstmals im Taschenbuch für Damen im Jahr 1802 veröffentlicht und hatte dort die Überschrift:

Voltaires Pucelle und die Jungfrau von Orleans
Das edle Bild der Menschheit zu verhöhnen,
Im tiefsten Staube wälzte dich der Spott,
Krieg führt der Witz auf ewig mit dem Schönen,
Er glaubt nicht an den Engel und den Gott,
Dem Herzen will er seine Schätze rauben,
Den Wahn bekriegt er und verletzt den Glauben.
Doch, wie du selbst, aus kindlichem Geschlechte,
Selbst eine fromme Schäferin wie du,
Reicht dir die Dichtkunst ihre Götterrechte,
Schwingt sich mit dir den ew'gen Sternen zu,
Mit einer Glorie hat sie dich umgeben,
Dich schuf das Herz, du wirst unsterblich leben.
Es liebt die Welt das Strahlende zu schwärzen,
Und das Erhabne in den Staub zu ziehn,
Doch fürchte nicht! Es gibt noch schöne Herzen,
Die für das Hohe, Herrliche entglühn,
Den lauten Markt mag Momus unterhalten,
Ein edler Sinn liebt edlere Gestalten.

Momos ist übrigens der griechische Gott des Spottes und der Schmähsucht. Schiller wandte sich gegen Voltaires bissige und schlüpfrige Satire, die damals in Abschriften in französischen Boudoirs und an deutschen Adelshöfen kursierte. Die Königin-Mutter in Berlin lies sie sich vorlesen, während die Prinzessin Wilhelmine atemlos im Nebenzimmer lauschte, Friedrich der Große drückte seine Bewunderung in überschwänglichen Lobesworten aus.
Voltaire lässt Johanna z.B. nackt auf einem Esel in die Schlacht reiten. Ihr wird durch himmlisches Geheiß bestimmt, den Krieg gegen England für Frankreich zum Sieg zu führen, indem sie ihre Jungfräulichkeit für ein Jahr verteidigt. Ihre Heldentat besteht nun darin, innerhalb der vorgeschriebenen Zeit ihre Jungfräulichkeit gegen lüsterne Mönche, Adlige und einen Esel zu verteidigen, um sich nach Ablauf der Frist endlich ungehindert den Freuden der Liebe hinzugeben. Der Freidenker Voltaire geißelte Kirche, Religion und Glauben vom skeptischen Standpunkt der radikalen Aufklärung und lehnte dabei alles, was nicht mit dem menschlichen Verstand erklärt werden kann, als irrationalen Aberglauben ab.
Wenn es Schiller nun daran lag, seine Johanna gegen diese Satire zu verteidigen, dann konnte er das nur, indem er Voltaire’s Verkürzung des Menschen auf ein reines Verstandeswesen etwas entgegen setzte, was auf die Wesenszüge des Menschen verweist, die jenseits dessen liegen, was dem „Esprit“ zugänglich ist. Nur indem er „dem edlen Bild“ des Menschen insgesamt gegen den Hohn und Spott Voltaire’s wieder die wahre Größe gab, konnte er auch die historische Johanna von dem Schmutz befreien, durch den sie Voltaire gezogen hatte. Das wäre mit einem historischen Drama nicht möglich gewesen. Deswegen schuf Schiller mit seinem romantischen Trauerspiel ein Idyll, welches – wenn es gut gespielt wird – den Zuschauer so hoch erhebt, dass er „den göttlichen Funken“, den jeder Mensch in sich trägt, subjektiv erfährt. Und dieser Funke entflammt an der ganz unvernünftigen und logisch nicht erklärbaren tätigen Liebe, die Johanna ihren Mitmenschen und ihrem Volk entgegenbringt.

Philosophische Briefe

Der junge Schiller war mit der Philosophie der englischen Aufklärung bereits in der Karlsschule durch seinen Lehrer und Freund Jakob Friedrich von Abel bekannt geworden und hatte in den „Philosophischen Briefen“ beeindruckend beschrieben, warum er „Skeptizismus und Freidenkerei“ als gefährliche Fieberattacken des menschlichen Geistes ansah, welche bestenfalls durch „die unnatürliche Erschütterung, die sie in gut organisierten Seelen verursachen, zuletzt die Gesundheit befestigen helfen“ können.
Die „Philosophischen Briefen“ beginnen damit, dass Julius, der jüngere der beiden Freunde, dem älteren Raphael beschreibt, welche Erschütterung diese Philosophie in ihm ausgelöst hatte: „Selige paradiesische Zeit,.. da ich noch vor einem Teufel bebte und desto herzlicher an der Gottheit hing. Ich empfand und war glücklich...Du hast mir den Glauben gestohlen, der mir Frieden gab. Du hast mich verachten gelehrt, wo ich anbetete...Glaube Niemand, als deiner eigenen Vernunft, sagtest du… Was die Vernunft erkennt, ist die Wahrheit. Ich habe dir gehorcht, habe alle Meinungen aufgeopfert, habe gleich jenem verzweifelten Eroberer alle meine Schiffe in Brand gesteckt, da ich an dieser Insel landete, und alle Hoffnung zur Rückkehr vernichtet... Deine Lehre hat meinem Stolze geschmeichelt... Ich fühlte mich ganz frei… Alle Dinge im Himmel und auf Erden haben keinen Wert, keine Schätzung, als so viel meine Vernunft ihnen zugesteht... Welcher Vorrat für meinen Durst nach Erkenntnis! aber – unglückseliger Widerspruch der Natur! – – dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten… Wohin ich nur sehe, Raphael, wie beschränkt ist der Mensch!.. Wecke ihn nicht!.. Die Vernunft ist eine Fackel in einem Kerker… Ersetzt mir deine Weisheit, was sie mir genommen hat?.. Raphael, ich fordre meine Seele von dir. Ich bin nicht glücklich.“
Der weitere Verlauf der „Philosophischen Briefe“ beschreibt nun, wie Julius seine Seele wiederfindet, wie er den Mangel, den der Verweis auf die menschliche Vernunft und nur die Vernunft beheben kann. Der „Fieberanfall“ macht Julius nämlich eines deutlich: Die Vernunft hat zwar, und ganz zurecht, den naiven Glauben an Himmel und Hölle zerstört, aber Vernunfterkenntnis allein kann den Menschen in seiner Gesamtheit nicht erklären, vor allem kann sie Liebe nicht erklären, und Liebe gehört zum Menschsein genauso wie die Vernunft, ja sie ist die Grundlage dafür, dass sich der Mensch, durch „Verwechselung“ seiner selbst mit dem Mitmenschen als selbständiges und autonomes Wesen entwickeln und so erst seine Vernunft gebrauchen kann. Das ist die Lösung, die Julius findet. Und das ist die Lösung, die auch Johanna in dem romantischen Trauerspiel finden wird.
Die folgende Stelle aus den „Philosophischen Briefen“ ist für das Verständnis der „Jungfrau von Orleans“ sehr wichtig: „Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Urkraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen.“
Und weiter: „Denke dir eine Wahrheit, mein Raphael, die dem ganzen Menschengeschlecht auf entfernte Jahrhunderte wohl tut – setze hinzu, diese Wahrheit verdammt ihren Bekenner zum Tode, diese Wahrheit kann nur erwiesen werden, nur geglaubt werden, wenn er stirbt. Denke dir dann den Mann mit dem hellen umfassenden Sonnenblicke des Genies, mit dem Flammenrad der Begeisterung, mit der ganzen erhabenen Anlage zu der Liebe. Lass in seiner Seele das vollständige Ideal jener großen Wirkung emporsteigen – lass in dunkler Ahnung vorübergehen an ihm alle Glücklichen, die er schaffen soll – lass die Gegenwart und die Zukunft zugleich in seinem Geist sich zusammendrängen, und nun beantworte dir, bedarf dieser Mensch der Anweisung auf ein anderes Leben?“
Dann zieht er die „Summe von allem Bisherigen“:

„Liebe, Liebe leitet nur
Zu dem Vater der Natur,
Liebe nur die Geister.
Hier, mein Raphael, hast du das Glaubensbekenntnis meiner Vernunft, einen flüchtigen Umriss meiner unternommenen Schöpfung. So wie du hier findest, ging der Samen auf, den du selber in meine Seele streutest.“


Wenn Johanna auf der Bühne das Schwert gegen den äußeren Feind Frankreichs erhebt, dann kämpft sie nicht nur als Retterin der Nation, sondern führt gleichzeitig den inneren Kampf, den Schiller in den „Philosophischen Briefen“ dargestellt hat. Mit Talbot besiegt Johanna in Schillers Drama nicht nur den mächtigen Feldherrn der Engländer, der die historische Jean d’Arc um 22 Jahre überlebte, sondern den knallharten Empiristen und bedingungslosen Skeptiker, dem alles Transzendente nur Aberglaube ist. Und in seiner trotzigen Größe reißt Talbot auch Voltaire mit sich zum Orkus hinab.
Auch die Lösung dieses inneren Kampfes durch Johannas Liebe entspricht dem, was in den „Philosophischen Briefen“ dargelegt ist. Von dieser Warte aus wird jedenfalls das seltsame Rätsel, dass Johanna gerade die Liebe zu Lionel als Verfehlung empfindet, verstehbar. Doch zuerst muss geklärt werden, um welche Liebe es genau geht.

Was ist Vaterlandsliebe?

Friedrich Schiller stellt dem Drama einen Prolog voran, der mit dem eindrucksvollen Monolog der Johanna endet, worin sie beschreibt, wie „des Geistes Ruf“ an sie erging und ihr in einer Vision von Gott verkündigt wurde:

„Geh hin! Du sollst auf Erden für mich zeugen.
In raues Erz sollt du die Glieder schnüren,
Mit Stahl bedecken deine zarte Brust,
Nicht Männerliebe darf dein Herz berühren
Mit sünd’gen Flammen eitler Erdenlust…
Denn wenn im Kampf die Mutigsten verzagen,
Wenn Frankreichs letztes Schicksal nun sich naht,
Dann wirst du meine Oriflamme tragen
Und, wie die rasche Schnitterin die Saat,
Den stolzen Überwinder niederschlagen;
Umwälzen wirst du seines Glückes Rad,
Errettung bringen Frankreichs Heldensöhnen,
Und Rheims befrein und deinen König krönen!“


Wieso ergeht dieser Ruf ausgerechnet an Johanna? Wieso nicht an den König Karl, einen Grafen Dunois oder an Johannas Vater Thibaut? Was zeichnet Johanna vor allen diesen Personen aus? Die Antwort finden wir wenige Zeilen vor dem zitierten Monolog: Johanna liebt ihre Mitmenschen, sie ist erfüllt von einer bedingungslosen Liebe zu ihrem Volk, welche sie ausdrückt, indem sie den Staat im Bild des edlen und fürsorglichen Königs personifiziert.

„Wir sollen keine eigne Könige
Mehr haben, keinen eingebornen Herrn –
Der König, der nie stirbt, soll aus der Welt
Verschwinden – der den heil’gen Pflug beschützt,
Der die Trift beschützt und fruchtbar macht die Erde,
Der die Leibeignen in die Freiheit führt,
Der die Städte freudig stellt um seinen Thron –
Der dem Schwachen beisteht und den Bösen schreckt,
Der den Neid nicht kennet, denn er ist der Größte,
Der ein Mensch ist und ein Engel der Erbarmung
Auf der feinsel’gen Erde. – Denn der Thron
Der Könige, der von Golde schimmert, ist
Das Obdach der Verlassenen – hier steht
Die Macht und die Barmherzigkeit – es zittert
Der Schuldige, vertrauend naht sich der Gerechte,
Und scherzet mit den Löwen um den Thron!
Der fremde König, der von außen kommt,
Dem keines Ahnherrn heilige Gebeine
In diesem Lande ruhn, kann er es lieben?
Der nicht jung war mit unsern Jünglingen,
Dem unsre Worte nicht zum Herzen tönen,
Kann er ein Vater sein zu seinen Söhnen?“

Johannas Vater Thibaut antwortet darauf mit dem Zynismus des Normalbürgers.

„ – Kommt an die Arbeit! Kommt! Und denke jeder
Nur an das Nächste! Lassen wir die Großen,
Der Erde Fürsten um die Erde losen,
Wir können ruhig die Zerstörung schauen,
Denn sturmfest steht der Boden, den wir bauen.
Die Flamme brenne unsre Dörfer nieder,
Die Saat zerstampfe ihrer Rosse Tritt,
Der neue Lenz bringt neue Saaten mit,
Und schnell erstehn die leichten Hütten wieder!“

Das lässt bereits den Konflikt erahnen, der sich im Verlauf des Dramas noch zwischen Johanna und ihrem Vater entwickeln wird.
Da das Wort „Vaterlandsliebe“ in der Vergangenheit so schrecklich missbraucht wurde, dass man es fast nicht in den Mund nehmen möchte, muss genau untersucht werden, was mit Johannas „Liebe für ihr Volk“ gemeint ist. Das ist auch wichtig, um zu verstehen, was es bedeutet, wenn im Verlauf des Dramas Johannas Liebe zum Vaterland mit der Liebe zu dem Mann Lionel in Konflikt gerät.
Schiller liefert uns den Schlüssel dazu in einer herrlichen, kleinen Schrift mit dem Titel „Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde“. Unter anderem wird dort beschrieben, welche Wirkung die Geburt des ersten Kindes auf die Beziehung der Eltern hat: „Bis jetzt hatten beide nur ein gesellschaftliches Verhältnis, nur eine Gattung von Liebe erkannt, weil jedes in dem andern nur einen Gegenstand vor sich hatte. Jetzt lernten sie mit einem neuen Gegenstand eine neue Gattung von Liebe, ein neues moralisches Verhältnis kennen – elterliche Liebe. Dieses Gefühl von Liebe war von reinerer Art als das erste, es war ganz uneigennützig, da jenes erste bloß auf Vergnügen, auf wechselseitiges Bedürfnis des Umgangs gegründet gewesen war.
Sie betraten also mit dieser neuen Erfahrung schon eine höhere Stufe der Sittlichkeit - sie wurden veredelt.
Aber die elterliche Liebe, in welcher sich beide für ihr Kind vereinigten, bewirkte nun auch eine nicht geringe Veränderung in dem Verhältnis, worin sie bisher zueinander gestanden hatten. Die Sorge, die Freude, die zärtliche Teilnahme, worin sie sich für den gemeinschaftlichen Gegenstand ihrer Liebe begegneten, knüpfte unter ihnen selbst neue und schönere Bande an. Jedes entdeckte bei dieser Gelegenheit in dem andern neue sittliche Züge, und eine jede solcher Entdeckungen erhöhte und verfeinerte ihr Verhältnis. Der Mann liebte in dem Weibe die Mutter, die Mutter seines geliebten Sohns. Das Weib ehrte und liebte in dem Mann den Vater, den Ernährer ihres Kindes. Das bloß sinnliche Wohlgefallen aneinander erhob sich zur Hochachtung, aus der eigennützigen Geschlechtsliebe erwuchs die schöne Erscheinung der elterlichen Liebe.“
Schiller spricht nicht von der Liebe an sich, sondern von verschiedenen „Gattungen von Liebe“. Die Liebe des Paares wird durch die Erweiterung einer Bezugsperson „erhöht“ und zur „elterlichen“ Gattenliebe „veredelt“. Diese Liebe, und nicht ein abstrakter „Familienvertrag“, konstituiert das wesentliche Fundament der Familie. Weitet man diesen Gedanken auf größere Gemeinschaften aus, dann gelangt man schließlich zum Staatswesen, welches nicht durch einen abstrakten „Gesellschaftsvertrag“ gegründet wird, sondern auf der Grundlage tätiger Nächstenliebe ruht. Führt man diesen Gedanken weiter, so gelangt man schließlich zur „Menschheitsfamilie“ des Heiligen Augustinus.
Verwirklicht wird diese Liebe jedoch nur durch die tätige Nächstenliebe, die sich im Handeln gegenüber den real existierenden Mitmenschen praktisch erweisen muss. Sobald die Liebe sich auf eine Gesellschafts- oder Staatsidee richtet und den individuellen „Nächsten“ aus dem Zentrum rückt, beginnt der Missbrauch der Begriffe „Menschheit“ oder „Vaterland“. Wie leicht „Idealisten“ in diese Missbrauchsgefahr geraten, zeigt Schiller in seinem Don Karlos am Beispiel der Figur des Marquis Posa, den dieser Fehler zum Verräter am Freund und an der Menschheit macht.
Johanna ist erfüllt von tätiger Nächstenliebe. Als Hirtin, so erfahren wir schon im Prolog, liebt sie ihre Herde und rettet mutig das kleinste Lamm aus den Fängen des „Tigerwolfs“. Und sie liebt ihre Mitmenschen, sie will diese vor dem Kriegsleid bewahren. Die Erscheinung der heiligen Maria und die Verkündigung ihrer Mission werden vor diesem Hintergrund zum bildlichen Ausdruck von Johannas Vaterlandsliebe. Sie will ihrem Volk ein guter Hirte und liebevoller König sein.
Dieser Standpunkt Schillers gibt auch Johannas Keuschheitsgelübde einen tieferen Sinn und macht erst wirklich verständlich, warum sich Johanna in dem Augenblick schuldig fühlt, als ihre sinnliche Liebe zu Lionel über die in ihrem Herzen „veredelte“ Form der Vaterlandsliebe die Oberhand gewinnt.
Aber Johannas schönes Bild des durch den König personifizierten Staates entspricht nicht der Realität. Diese wird dem Zuschauer in den nächsten Szenen durch die Schwäche und Mutlosigkeit des Königs von Frankreich unmittelbar vor Augen geführt. Johanna beschreibt nicht den realen König, sondern den „König, der nie stirbt“, d.h. eine Staatsidee, die getragen ist von liebender Fürsorge des Regenten für die Bürger – eine Idee, die weder einem logischem Kalkül noch der Vernunfterkenntnis entspringt, sondern allein dem liebenden Herzen. Diese Liebe zu ihrem Volk ist die Grundlage, auf der Johanna später, wenn sie an ihrer himmlischen Berufung verzweifelt – genau wie der Julius der „Philosophischen Briefe“ –, ihre Seele wiederfinden kann.

Auch ich war in Arkadien geboren.
Zu Beginn sehen wir Johanna aus ihrem Schäferidyll in die Welt der Politik und des Krieges gerissen, sie folgt dem „Ruf des Geistes“ und sagt:

„Lebt wohl ihr Berge, ihr geliebten Triften,
Ihr traulich stillen Täler lebet wohl!
Johanna wird nun nicht mehr auf euch wandeln,
Johanna sagt euch ewig Lebewohl!...
Ins Kriegsgewühl hinein will es mich reißen,
Es treibt mich fort mit Sturmes Ungestüm,
Den Feldruf hör’ ich mächtig zu mir dringen,
Das Schlachtross steigt, und die Trompeten klingen.“

Bereits hier, im Prolog, beginnt ein Bruch, der dann am Ende des vierten Aktes für jeden offen zu Tage tritt. Johanna verfolgt ihren Auftrag, aber dafür hat sie ihren inneren Frieden verloren. So überlegen sie nach außen auch scheint, innerlich ist sie zerrissen und durch den von außen an sie ergangenen „Ruf des Geistes“ bestimmt.
Das kommt auch in der Mongomery-Szene deutlich zum Ausdruck, deren Bezug zum 21 Gesang der Ilias immer wieder betont wird. Wenn man den Vergleich anstellt, dann besteht jedoch ein entscheidender Unterschied. Im 21. Gesang der Ilias ist es der freie Wille von Achill, d.h. sein „eigenes Gelüst“, keinen Feind zu schonen, nachdem sein Freund Patroklos von Hektor umgebracht wurde. Im Unterschied dazu „muss“ Johanna Montgomery töten, weil sie von der Götterstimme „getrieben“ ist. Sie sagt:

„Ich bin nur eine Jungfrau, eine Schäferin
Geboren, nicht des Schwerts gewohnt ist diese Hand,
Die den unschuldig frommen Hirtenstab geführt.
Doch weggerissen von der heimatlichen Flur,
Vom Vaters Busen, von der Schwestern lieber Brust,
Muss ich hier, ich muss – mich treibt die Götterstimme, nicht
Eignes Gelüsten – euch zu bitterm Harm, mir nicht
Zur Freude, ein Gespenst des Schreckens, würgend gehen,
Den Tod verbreiten und sein Opfer sein zuletzt!“

Kurz darauf reflektiert Johanna die geradezu dämonische Kraft in dem Schwert, das ihr die „erhabene Jungfrau“ für ihre Mission zugewiesen hat:

„Erhabne Jungfrau, du wirkst Mächtiges in mir!
Du rüstest den unkriegerischen Arm mit Kraft,
Dies Herz mit Unerbittlichkeit bewaffnest du.
In Mitleid schmilzt die Seele und die Hand erbebt,…
Schon vor des Eisens blanker Schneide schaudert mir,
Doch wenn es Not tut, alsbald ist die Kraft mir da,
Und nimmer irrend in der zitternden Hand regiert
Das Schwert sich selbst, als wär’ es ein lebend’ger Geist.“

Und später beschreibt Johanna, im 1. Auftritt des 4. Aufzugs, welche Seelenqualen ihr die aufgegebene Mission bereitet, mit den Worten:

„Schuldlos trieb ich meine Lämmer
Auf des stillen Berges Höh.
Doch du rissest mich ins Leben,
In den stolzen Fürstensaal,
Mich der Schuld dahinzugeben,
Ach, es war nicht meine Wahl!“

Oft wird ja der entscheidende Fehler Johannas darin gesehen, dass sie ihr Gelübde der Jungfräulichkeit bricht, als sie sich in den Engländer Lionel verliebt und nicht tötet, und ihre Erlösung davon sei die Überwindung dieses Fehlers, worauf sie zu ihrer alten Mission zurückfindet. Dass diese oberflächliche Betrachtungsweise nicht stimmen kann, geht schon aus dem bereits zitierten Brief von Schiller vom November 1801 hervor. Darin schreibt er: „Die Jungfrau muss, da sie [gegenüber dem Schwarzen Ritter] ein Wort spricht, das die Nemesis beleidigt, und wobei sie ihren Auftrag vom Himmel weit überschreitet: „Nicht aus den Händen leg' ich dieses Schwert, als bis das stolze England untergeht,“ für solchen Übermut notwendig büßen. Die Strafe folgt ihr in der, Verliebung auf dem Fuße nach… Am Ende ist doch der ganze Händel mit dieser Verliebung… nur eine Prüfung.“ Die „Verliebung“ ist nicht der wesentliche Punkt, sondern nur Folge von Johannas „Übermut“. Beides sind nur Ergebnisse der für Johanna immer unerträglicheren Spannung zwischen der natürlichen Abgeschlossenheit der Schäferidylle, die sie verlassen hat, und der einseitigen Getriebenheit in der Welt des Krieges, in die sie ihr Auftrag gestürzt hat. Der Schwarze Ritter konnte sie „erschrecken und verwirren“, und nur weil sie ihrer Sache nicht ganz sicher ist, spricht sie die trotzig-übermütigen Worte.

Das Ideal und das Leben.
Wie kann Johanna ihrem Auftrag, der sie aus dem stillen Frieden ihres Hirtenidylls gerissen hat, gerecht werden und dennoch inneren Frieden wiederfinden? Man kann diese Frage beantworten, indem man vom Ende des Stücks, wo Johanna mit sich und ihrem Schicksal ausgesöhnt ist, rückwärts auf das Drama schaut und dabei einen kleinen Umweg über Schillers Aufsatz „Über die naive und sentimentalische Dichtung“ nimmt – ein Umweg, der sich gewiss lohnt.
Die Ähnlichkeit der letzten Zeilen des Johanna-Dramas mit dem Ende des Gedichts „Das Ideal und das Leben“ ist augenfällig.

Johanna:
„Seht ihr den Regenbogen in der Luft?
Der Himmel öffnet seine goldnen Tore,
Im Chor der Engel steht sie glänzend da,
Sie hält den ew’gen Sohn an ihrer Brust,
Die Arme streckt sie lächelnd mir entgegen.
Wie wird mir – leichte Wolken heben mich –
Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide.
Hinaus –hinauf – Die Erde flieht zurück –
Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude!“

Am Ende von „Das Ideal und das Leben“ wird die Himmelfahrt des Herkules so beschrieben:

… Bis sein Lauf geendigt ist –
Bis der Gott, des irdischen entkleidet,
Flammend sich vom Menschen scheidet,
Und des Äthers leichte Lüfte trinkt.
Froh des neuen ungewohnten Schwebens
Fließt er aufwärts und des Erdenlebens
Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.
Des Olympus Harmonien empfangen
Den Verklärten in Chronions Saal,
Und die Göttin mit den Rosenwangen
Reicht ihm lächelnd den Pokal.

Als Wilhelm von Humboldt dieses Gedicht von Schiller zugeschickt erhielt, dankte er dem Freund Schiller am 21.8.1795 „für den unbeschreiblich hohen Genuss“, den ihm das Gedicht gegeben habe. „Es hat mich seit dem Tage, an dem ich es empfing, im eigentlichsten Verstande ganz besessen, ich habe nichts Anderes gelesen, kaum etwas Anderes gedacht… Solch einen Umfang und solch eine Tiefe der Ideen enthält es, und so fruchtbar ist es, woran ich vorzüglich das Gepräge des Genies erkenne, selbst wieder neue Ideen zu wecken… Man muss es erst durch eine gewisse Anstrengung verdienen, es bewundern zu dürfen; zwar wird jeder, der irgend dafür empfänglich ist, auch beim ersten aufmerksamen lesen den Gehalt und die Schönheit jeder Stelle empfinden, aber zugleich drängt sich das Gefühl auf, bei diesem Gedichte nicht anders, als in einer durchaus verstandenen Bewunderung ausruhen zu können.“
Aus Humboldts Worten kann man entnehmen, dass eine umfassende Würdigung dieses einzigartigen Gedichts in wenigen Zeilen nicht zu leisten ist, aber ein wichtiger Aspekt für das Verständnis der Johanna kann skizziert werden. Im Zentrum des Gedichtes stehen vier Strophenpaare, von denen die erste immer mit „wenn“ und die Gegenstrophe mit „aber“ beginnt. Sie beschreiben, wie der Mensch sein geistiges Wesen behauptet, während er als materielles Wesen handelt, welches Gesellschaft und Geschichte formt und in die Natur eingreift, und als Wesen, das dem Sittengesetz unterworfen ist. Das vierte Strophenpaar, und dieses ist für Johanna Drama besonders wichtig, beschreibt, wie der Mensch sein sinnliches und geistiges Wesen in harmonischen Einklang bringen kann. Wo der Mitmensch leidet, da soll ihn die „Sympathie“ für den Mitmenschen so mit Mitleid erfüllen, dass er seine geistige Natur ganz vergisst. Der „heiligen Sympathie“ soll „das Unsterbliche“ im Menschen „erliegen“. Ja, er soll in seinem Schmerz für den Nächsten sogar „empört“ den „Himmel“ anklagen.
Wenn der Mensch sich jedoch über sein Schicksal erhoben hat und in der Lage ist, sein Leid als notwendiges Übel einer universalen Ordnung zu sehen, dann ist das Leid zwar nicht verschwunden, aber es rührt ihn nun vor allem der Blick auf die pathetische und erhabene Seelenkraft, mit der dieses Leiden ertragen wird. Deswegen fließen die Mitleidstränen nicht mehr wegen der unmittelbaren Erfahrung der Schrecken und der Qual, sondern wegen „des Geistes tapfrer Gegenwehr“; die Empörung gegen die Ungerechtigkeit des Himmels weicht einer wehmütigen und ruhigen Ergebenheit in das Schicksal. Nur so kann der Mensch sein sinnliches und sein geistiges Wesen aussöhnen, das Leid als des „Erdenlebens schweres Traumbild“ ertragen, ohne an seiner göttlichen Bestimmung zu zweifeln. Der Mensch, so beschreibt es Schiller in diesem Gedicht, reicht an die Gottheit heran. Das ist keine Erlösungsverheißung, sondern eine Aufgabe, die sich dem Menschen tagtäglich stellt, und die er mehr oder weniger gut meistern wird.
In einem Brief an Wilhelm Humboldt vom 30.11.1795 schrieb Schiller: "Ich habe ernstlich im Sinne, da fortzufahren, wo das 'Ideal und das Leben' aufhört…Herkules ist in den Olymp eingetreten, hier endigt letzteres Gedicht. Die Vermählung des Herkules mit der Hebe würde der Inhalt meiner Idylle sein. Über diesen Stoff hinaus gibt es keinen mehr für den Poeten, denn dieser darf die menschliche Natur nicht verlassen, und eben von diesem Übertritt des Menschen in den Gott würde diese Idylle handeln... Gelänge mir dieses Unternehmen, so hoffte ich dadurch mit der sentimentalischen Poesie über die naive selbst triumphiert zu haben."

Über naive und sentimentalische Dichtung.
Für Schiller als Poeten, der die schöne Kunst weiterentwickeln und voranbringen will, ist die Möglichkeit einer solchen „Idylle“ von größter Bedeutung. Weiter unten in dem Brief schreibt er, dass er bereit sei, seine „ganze Kraft aufzubrauchen“, um diesen „Triumph“ der „sentimentalischen Poesie über die naive“ zu bewerkstelligen. Auch die „schillernde“ Verwendung des Begriffs in seiner Schrift „Über naive und sentimentalische Dichtung“ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Diese Schrift ist für ihn besonders wichtig, weil er darin auslotet, wie weit er als moderner Dichter über das hinausgehen kann, was die klassischen Dichter des Altertums geleistet haben. Bezüglich des Begriffs der Idylle geschieht in dieser Schrift etwas sehr Interessantes. Im ersten Teil steht nämlich: „Die Darstellung des sentimentalischen, d.h. des modernen Dichters wird bezüglich der Empfindungsweise also entweder satirisch, oder sie wird elegisch sein: An eine von diesen beiden Empfindungsarten wird jeder sentimentalische Dichter sich halten.“ Das Idyll sei für den modernern Dichter nicht realisierbar und nur eine Unterform der Elegie.
Nachdem Schiller genauer auf die Satire und die Elegie eingegangen ist, beginnt er den letzten Abschnitt über die Idylle mit den Worten: „Es bleiben mir noch einige Worte über diese dritte Spezies sentimentalischer Dichtung zu sagen übrig“. Da er bereits zu Beginn des Abschnitts über die Elegie in einer Fußnote „rechtfertigte“, warum er „die Idylle selbst zur elegischen Gattung rechne“, sind nun tatsächlich nur noch einige Worte dazu zu erwarten. Aber ganz im Gegensatz dazu gerät Schiller dieser letzte Abschnitt mehr als doppelt so lang wie beide Abschnitte über Satire und Elegie zusammen genommen. In einer Fußnote zu Beginn gesteht er außerdem plötzlich der Idylle einen gleichwertigen Platz neben Satire und Elegie zu. Er schreibt nun Folgendes: „Die sentimentalische Dichtung nämlich unterscheidet sich dadurch von der naiven, dass sie den wirklichen Zustand, bei dem die letztere stehen bleibt, auf Ideen bezieht und Ideen auf die Wirklichkeit anwendet.“ Sie hatte es also entweder mit dem „Widerspruch“ oder der „Übereinstimmung“ des „wirklichen Zustandes mit dem Ideal“ zu tun. Daraus folgerte er ursprünglich die Existenz der beiden Gattungen Satire und Elegie – mit deren Unterform Idyll. Nun fährt er fort: „In dem ersten Fall wird es durch die Kraft des innern Streits, durch die energische Bewegung, in dem andern wird es durch die Harmonie des innern Lebens, durch die energische Ruhe, befriedigt, in dem dritten wechselt Streit mit Harmonie, wechselt Ruhe mit Bewegung. Dieser dreifache Empfindungszustand gibt drei verschiedenen Dichtungsarten die Entstehung, denen die gebrauchten Benennungen Satire, Idylle, Elegie vollkommen entsprechend sind.“
Diese neue Deutung des Begriffs rührt von dem Gedicht „Das Ideal und das Leben“ her, welches während der Abfassung des Aufsatzes „Über naive und sentimentalische Dichtung“ entstand. Es ließ Schiller die Möglichkeit erkennen , dass auch der moderne Dichter eine Idylle schaffen kann, welche (wie er in dem bereits erwähnten Brief an Humboldt schreibt) „der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes“ ist, „einer freien Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetz, einer zur höchsten sittlichen Würde hinauf geläuterten Natur.“ Die Idylle gilt Schiller von nun an als das höchste Ziel des modernen Dichters.
Kommen wir nach dem kleinen Umweg nun wieder zur Johanna zurück. Wenn man nach der Empfindungsweise fragt, die sich im 5. Aufzug der „Jungfrau von Orleans“ zunehmend durchsetzt, so erkennt man, dass Schiller sich immer mehr der Idylle annähert.

Tochter aus Elysium.
Wie in „Das Ideal und das Leben“ beschrieben, sehen wir anfangs Johanna aus ihrem Schäferidyll, aus ihrer inneren Harmonie, gerissen. Für sie gilt jetzt, im Leben „zu herrschen und zu schirmen,“ wo „Kühnheit sich an Kraft zerschlagen“ mag und „sich der Mensch empöre, wenn der Menschheit Leiden euch umfangen.“ Aber nach der „Verliebung“ mit Lionel, nachdem ihre Zerrissenheit ans Tageslicht gekommen ist und sie sich selbst erkannt hat, sehen wir sie in dem für Schillers neuen Begriff des Idylls charakteristischen Zustand eines völlig aufgelösten inneren Kampfes. Ihr „rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr, keine Träne fließt hier mehr dem Leiden, nur des Geistes tapfrer Gegenwehr,“ und „durch der Wehmut düstern Schleier schimmert lieblich der Ruhe heitres Blau.“ Nachdem das Gewitter ausgetobt hat, sagt Johanna:


„Doch in der Öde lernt’ ich mich erkennen.
Da, als der Ehre Schimmer mich umgab,
Da war der Streit in meiner Brust; ich war
Die Unglückseligste, da ich der Welt
Am meisten zu beneiden schien – Jetzt bin ich
Geheilt...
In mir ist Friede – Komme, was da will,
Ich bin mir keiner Schwachheit mehr bewusst!“


In einem Brief vom 4.4.1801 schrieb Schiller an Goethe in Bezug auf den letzten Akt: „Er erklärt den ersten, und so beißt sich die Schlange in den Schwanz. Weil die Heldin darin auf sich allein steht… zeigt sich ihre Selbständigkeit.“ Die Jungfrau handelt jetzt als autonomes, freies Wesen und nicht mehr als von einem Geist auf dämonische Weise Getriebene. Im letzten Akt braucht Johanna deshalb das „als lebendiger Geist“ agierende Schwert nicht mehr. Sie ist in Gefangenschaft und alles scheint verloren, als ein englischer Soldat ruft „Der König ist gefangen!“ Da springt Johanna auf und „in demselben Augenblick stürzt sie sich auf den nächststehenden Soldaten, entreißt ihm sein Schwert und eilt hinaus“ in die Schlacht, um deren Wende für die französische Seite herbeizuführen.
Johanna, die von der rauen Wirklichkeit des Krieges aus ihrer Schäferidylle – ihr Arkadien, zu dem sie nie wieder zurückkehren kann – gerissen wurde, hat nun ihr inneres Gleichgewicht wieder erlangt, sie ist nicht nach Arkadien zurückgekehrt, sie ist nun groß und erhaben, sie ist nun in Elysium. In dieser Erhabenheit reißt sie uns Zuschauer mit sich empor, weit über den bitterbösen Nebeldunst des Skeptizismus und der bösartigen Satire.
Dass ihr dieses gelingen konnte, ist nicht selbstverständlich. In dem Fragment „Demetrius“ entwickelt Schiller z.B. ein Gegenbild zur Jungfrau, in dem Demetrius zur „tragischen Person“ wird, „wenn er durch fremde Leidenschaften… dem Glück und dem Unglück zugeschleudert wird.“ Er befreit das Volk nicht vom falschen Zaren, weil er es liebt; deshalb verliert er sein Charisma in dem Augenblick, als er erfährt, dass seine adelige Abstammung ein Betrug ist. Bei der Jungfrau ist das ganz anders. Die Grundlage für ihr Handeln ist nicht nur „der Ruf des Geistes“, sondern die Liebe zu ihrem Volk. Deshalb findet sie die Kraft, in einer Situation, in der sie an sich selbst zweifelt, alle an ihr zweifeln, selbst Raimond, der einzige Mensch, der ihr treu bleibt, sie für eine Hexe hält, mit sich ins Reine zu kommen. Wenn man Johannas Liebe zu den Mitmenschen nicht sieht, dann wird ihr Handeln unerklärlich, denn der „Ruf des Geistes“ kann sie aus ihrer „Schuld“ nicht erlösen. Wie Demetrius wäre sie tragisch gescheitert.
Dabei werden viele, wenn nicht alle wunderlichen Dinge des Dramas verständlich, wenn man sie, wie es hier versucht wurde, auf der Grundlage der „Philosophischen Briefe“ und Schillers Idee des Idylls in „Über naive und sentimentalische Dichtung“ betrachtet.
In der „Jungfrau von Orleans“ sind verschiedene Ebenen ineinander verwoben. Obwohl sich Schiller in diesem Drama so weit wie in keinem anderen von der Geschichte entfernt, existiert dennoch „soweit als möglich“ die historische Jeanne d’Arc. Mit dem Bezug auf die politische Situation und die Ereignisse zu Schillers Lebzeit gibt es in dem Drama eine weitere historische Ebene. Und dann gibt es die Bezüge zur Literatur und Philosophie. Das ist alles da. Sobald allerdings eine dieser Ebenen überbewertet wird, wird dieses wunderschöne und großartige Werk verkürzt und deformiert. Will man das vermeiden, so bleibt nur der Zugang über den Versuch, Schillers Wirken und Absicht als Künstler zu verstehen, seinen leidenschaftlichen Kampf für eine neue Klassik und die Entwicklung der „schönen Kunst“.
Schiller sagt in seiner Vorrede zu „Die Braut von Messina“, dem Stück, das er unmittelbar nach der „Jungfrau von Orleans“ schrieb: „Es gibt keine höhere und keine ernsthaftere Aufgabe, als die Menschen zu beglücken. Die rechte Kunst ist nur diese, welche den höchsten Genuss verschafft. Der höchste Genuss aber ist die Freiheit des Gemüts in dem lebendigen Spiel aller seiner Kräfte. Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf ein vorübergehendes Spiel abgesehen; es ist ihr ernst damit, den Menschen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn wirklich und in der Tat frei zu machen.“ Kurz bevor er mit der Niederschrift seiner „Jungfrau von Orleans“ begann, gelang Schiller das in der Weltliteratur einzigartige Gedicht „Das Ideal und das Leben“. Es ermutigte ihn, an die „Möglichkeit einer solchen Idylle zu glauben“ und zu erkennen, dass die Idylle die höchste, aber auch die schwierigste Kunstform ist, welche den „höchsten poetischen Effekt hervorbringen“ kann. Mit der „Jungfrau von Orleans“ bot sich Schiller der geeignete Stoff für die Vertiefung und Weiterführung dieser schwierigen Aufgabe.
Juni 2010

kinder

Sage mir, wie du spielst und ich sage dir, was du bist!

Ralf Schauerhammer


Es wird oft behauptet, die Computerrevolution mache bald die menschliche Arbeitskraft völlig überflüssig und der Mensch werde sein Leben bald nur noch in Freizeit, Cyberspace und Spiel verbringen. Ja, eigentlich sei dieses die wesentliche Bestimmung des Menschen und er sei kein "Handwerker" (kein "homo faber") mehr, sonder nur noch ein "Spieler" (ein "homo ludens"). Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga schrieb 1938 ein Buch mit dem Titel "HOMO LUDENS - Vom Ursprung der Kultur im Spiel", welches in diesem Zusammenhang oft zitiert wird. Die folgende kurze Betrachtung zu diesem Buch zeigt, dass das menschliche Wesen wohl auch weiterhin am treffendsten mit "homo sapiens" - das heißt: Mensch, der durch schöpferische Wissenschaft die Welt umgestaltet - beschrieben ist.

Johan Huizinga schieb am 15.6.1938 in der Einleitung (Seite 7) zu seinem Buch "HOMO LUDENS - Vom Ursprung der Kultur im Spiel" folgendes: "Es war mir darum zu tun... den Begriff Spiel,.. in den Begriff Kultur einzugliedern." und die erst drei Sätze (Seite 9) des Buches lauten: "Spiel ist älter als Kultur; denn so ungenügend der Begriff Kultur begrenzt sein mag, er setzt doch auf jeden Fall eine menschliche Gesellschaft voraus, und die Tiere haben nicht auf die Menschen gewartet, dass diese sie erst das Spielen lernten. Ja man kann ruhig sagen, dass die menschliche Gesittung dem allgemeinen Begriff des Spiels kein wesentliches Kennzeichen hinzugefügt hat. Tiere spielen genauso wie Menschen. Alle Grundzüge des Spiels sind schon im Spiel der Tiere verwirklicht."

Hier tritt gleich das wesentliche Problem des Buches zutage. Die Behauptung "alle Grundzüge des Spiels sind schon im Spiel der Tiere verwirklicht" stimmt nicht und kann, wie sich zeigen wird, von Huizinga nur aufrecht erhalten werden, indem er den Begriff "Spiel" formal so definiert, das der den Unterschied zwischen menschlichem Spiel und Tierspiel verdeckt.

Es stimmt! Tiere spielen und auch der Mensch spielt. Aber ihr Spielen hat eine völlig andere Qualität. Diese andere Qualität des Spiels reflektiert gerade den Unterschied zwischen Mensch und Tier, zwischen menschlicher Gesellschaft und Tierrudel, zwischen der Stellung des Menschen zum Universum und dem Verhältnis der Tiers zu seiner Umwelt.

Interessanterweise behandelt Huizinga in seinem ganzen Buch, obwohl er eine Vielzahl an Beispielen für spielende Tiere und spielende Menschen anführt, kein einziges Mal das Spiel zwischen Mensch und Tier. Aber genau dann, wenn der Mensch mit dem Tier spielt, erfährt er - und wahrscheinlich auch das Tier- die unterschiedliche Qualität des Spiels von Mensch und Tier.

Um diesen Unterschied unmittelbar anhand Huizingas Definition es Spiels zu verdeutlichen, zitiere ich, wie er den "Begriff Spiel" (Seite 37) definiert: "Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des 'Andersseins' als das 'gewöhnliche Leben'."

Der Mensch kann bewusst aus dem "gewöhnlichen Leben" heraustreten, es fragt sich jedoch, ob ein Tier, beim Spielen ein "Bewusstsein" darüber haben kann, dass es nun etwas "anderes" tut, als im "normalen Leben." Wahrscheinlich langt es dem Tier, ganz ohne Bewusstsein, zu spielen - wenn es nicht gerade schläft, döst, jagt, frisst oder sich fortpflanzt. Huizingas behauptet, seine Definition des Spiels gelte für Mensch und Tier gleichermaßen. In der Realität ist das jedoch nicht so. Der entscheidende Punkt, an dem der qualitative Unterschied zwischen Menschenspiel und Tierspiel sofort offenbar wird, ist, dass spielen "nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln" erfolgt. Denn im Gegensatz zum Tier macht der Mensch die Spielregeln selbst und verändert sie, obwohl sie im Verlauf des jeweiligen Spiels momentan "unbedingt bindend" sind.

Spielen nach den immer gleichen Regeln ist langweilig. Ein großer Teil des Kinderspiels besteht darin, neue Regeln "auszuhandeln", oder von einem Spiel zum anderen zu wechseln, wenn es sich um "bekannte" Spiele handelt, deren Regel inzwischen erstarrt sind. Die Regeln eines Menschenspiels können sich vor Veränderung auf dauer nur retten, indem sie bei genialer Einfachheit eine schier unendliche Vielfalt von Spielverläufen zulassen, und damit der schöpferischen Spielfreude genügend Raum lassen, sich auszutoben.

Bei Tieren ist das anders. Tiere haben ein festes Repertoire an Spielregeln, die sie ganz genau einhalten. Die Katze jagt geradezu reflexartig einem Wollknäuel hinterher. Der Hund wird mit gleicher Freude das Stöckchen wieder- und wiederbringen. Zwischen beiden Spielen ist jedoch schon ein Unterschied, der ohne den Menschen nicht möglich wäre. Das Wollknäuel jagen erfolgt völlig nach Spielregeln des Katze, während der Hund das Söckchen bringen vom Menschen gelernt hat. Der Hund gibt das Stöckchen, die "Beute", die Belohnung seiner Jagd, nachdem er es demonstrativ bekaut hat, wieder her, weil er damit das Spiel mit dem Menschen, nach dessen Regeln, fortsetzen kann. Mit dem Menschen versucht das Tier, soweit es ihn "verstehen" kann, auf menschenart, d.h. nach neuen Regeln, zu spielen. Ganz offensichtlich wird dieses, wenn das Spiel zwischen Mensch und Tier so komplex wird, wie z.B. bei der "Hohen Schule" der Pferdedressur.

Völlig schief liegt Huizingas schließlich, wenn er versucht die menschliche Sprache, Recht, Wissenschaft, Liturgie und Religion, Dichtung und Drama sowie die bildende Kunst auf das von ihm definierte Spiel zurückzuführen. Ganz deutlich wird das, wenn er (Seite 184) bezogen auf die "bildende Kunst" Friedrich Schiller und dessen Konzept des "Spieltriebs" aus den "Ästhetischen Briefen" erwähnt.

"Ein Zusammenhang zwischen bildender Kunst und Spiel ist schon seit langer Zeit in der Form einer Theorie angenommen worden, die das Produzieren von Kunstformen aus dem angeborenen menschlichen Spieltrieb erklären wollte. (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), 14. Brief) Ein beinahe instinktives, spontanes Schmuckbedürfnis, das füglich eine Spielfunktion genannt werden darf, ist tatsächlich nicht weit zu suchen... Um die Kunst im Ganzen aus einem "Spieltrieb" ableiten zu können, würde man auch das Bauen und das Abbilden darunter bringen müssen. Die Höhlenmalereien der älteren Steinzeit ein Erzeugnis des Spieltriebs? Das wäre doch wohl ein kühner Sprung des Geistes. Und für das Bauen kann die Hypothese schon deshalb nicht stimmen, weil dort der ästhetische Impuls durchaus nicht der beherrschende ist, wie die Bauwerke der Bienen und der Biber beweisen." Wieder verbaut sich Huizingas den Blick durch sein eigenes Vorurteil, welches das Spiel als primär und bei Tier und Mensch identisch sieht. Natürlich ist das instinktmäßige, "planlose" Bauwerk der Bienen mit keinem menschlichen vergleichbar und deshalb auch nicht auf die identische Art des Spielens zurückzuführen.

Die Weise, wie Huizinga Schiller zitiert, lässt übrigens erkennen, dass er Schillers Aufsatz selbst nicht gelesen hat. Im 14. Brief sagt Schiller nämlich gar nichts, was sich auf "das Produzieren von Kunstformen" bezieht, insbesondere nicht auf die bildende Kunst, die Huizinga in diesem Kapitel behandelt.

Was Schiller in dem zitierten 14. Brief wirklich darstellt ist folgendes. In den Briefen davor hat er zwei wesentliche, sich scheinbar widersprechende Weisen dargestellt, in denen sich der Mensch zur Umwelt stellt. Erstens den "Stofftrieb", der ihn veranlasst die Umwelt in sich sinnlich aufzunehmen. dieser Trieb will "sein Objekt empfangen", und zweitens den "Formtrieb", der den Menschen veranlasst seine eigenen Ideen in die Welt hineinzutragen, und diese danach zu ordnen und zu gestalten, dieser Trieb "will sein Objekt gestalten" (und, so sei mit Blick auf Huizinga angemerkt, erfordert eine geistige Fähigkeit, die kein Tier hat). Der Mensch scheint nun zwischen diesen beiden "Trieben" hin- und hergerissen und deshalb in seinem Handeln und Denken unfrei zu sein. (Wieder mit Blick auf Huizinga: Das Tier kennt diese Art der "Unfreiheit" nicht, da es den Formtrieb nicht kennt.) Es ist nun das, was Schiller den "Spieltrieb" nennt, welcher es dem Menschen erlaubt, frei zu handeln, indem nämlich der "spielende" Mensch die Umwelt so in seinen Sinnen empfängt, wie er sie selbst hervorgebracht haben möchte, und (in der Wissenschaft, Technik und Kunst) so hervorbringt, wie er sie mit den Sinnen zu empfangen trachtet.

Schiller beschreibt in einem kleinen Aufsatz mit dem Titel "Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der Mosaischen Urkunde" sehr schön und deutlich wieso der "Spieltrieb" des Menschen qualitativ über das Spiel des Tieres hinausgehen muss.

Schiller sagt: "An dem Leitbande des Instinkts, woran sie noch jetzt das vernunftlose Tier leitet, musste die Vorsehung den Menschen in das Leben einführen und, da seine Vernunft noch unentwickelt war, gleich einer wachsamen Amme hinter ihm stehen... Setzen wir also, die Vorsehung wäre auf dieser Stufe mit ihm stillgestanden, so wäre aus dem Menschen das glücklichste und geistreichste Tier geworden... Aber der Mensch war zu ganz etwas anderm bestimmt, und die Kräfte, die in ihm lagen, riefen ihn zu einer ganz andern Glückseligkeit. Was die Natur in seiner Wiegenzeit für ihn übernommen hatte, sollte er jetzt selbst für sich übernehmen, sobald er mündig war. Er selbst sollte der Schöpfer seiner Glückseligkeit werden, und nur der Anteil, den er daran hätte, sollte den Grad dieser Glückseligkeit bestimmen...Sobald seine Vernunft ihre ersten Kräfte nur geprüft hatte, riss er selbst ab von dem leitenden Bande, und mit seiner noch schwachen Vernunft, von dem Instinkte nur von ferne begleitet, warf er sich in das wilde Spiel des Lebens, machte er sich auf den gefährlichen Weg zur moralischen Freiheit...Jetzt war er für das Paradies schon zu edel, und er kannte sich selbst nicht, wenn er im Drang der Not und unter der Last der Sorgen sich in dasselbe zurückwünschte. Ein innrer ungeduldiger Trieb, der erwachte Trieb seiner Selbsttätigkeit, hätte ihn bald in seiner müßigen Glückseligkeit verfolgt und ihm die Freuden verekelt, die er sich nicht selbst geschaffen hatte. Er würde das Paradies in eine Wildnis verwandelt und dann die Wildnis zum Paradies gemacht haben."

Von diesem höheren Standpunkt aus, erfasst Schiller den menschlichen Spieltrieb in der schöpferischen Aktivität des moralisch freien Menschen. Er definiert das Spiel in seiner höchsten Form. Von diesem Standpunkt herab ist dann einfach zu erkennen, welche Elemente des schöpferischen Spiels wir bereist im Kinderspiel und selbst beim Spiel der Tiere wiederfinden. Huizinga hingegen scheitert mit seinem Vorhaben, den "Begriff Spiel,.. in den Begriff Kultur einzugliedern", weil er mit einer formalen Definition beginnt , und gar nicht merkt, dass er ein Vorurteil - die Gleichsetzung von Spielen bei Mensch und Tier - mit sich herumschleppt, welches es ihm letztendlich ganz unmöglich macht, dass zu erkennen, "worum ihm zu tun" war; nämlich den "Begriff Spiel" wahrhaft "in den Begriff Kultur einzugliedern."

Anmerkungen:
1) Johan Huizinga: HOMO LUDENS - -Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Originalausgabe, 1938 (hier Zitiert nach rowohlts, ISBN 3499554356).
2) Um Schillers "Spieltrieb" recht zu verstehen, muss man die heute von der Freudschen Psychoanalyse geprägten Bedeutung des Wortes "Trieb" vergessen und wissen, dass Schiller das Wort "Trieb" im Leibnizschen Sinne denkt. Trieb ist danach die der Substanz innewohnenden, mit der Vernunft harmonierende, individuelle Tätigkeit, während der Freudsche "Trieb" im Widerspruch zur Vernunft steht.


Eine kurze Geschichte
über die poetische Wahrheit von Schillers Bürgschaft 

Ralf Schauerhammer

Friedrich Schiller ging in dem kleinen Zimmer auf und ab. Längst war der Mond aus der sternklaren Augustnacht versunken und der Morgen dämmerte. Sogar die frühen Rotschwänzchen sangen schon. Bald würde vom Berg herüber die Sonne seine neue „Gartenzinne“ bescheinen. Schiller trat ans Fenster, blickte in das Gärtchen und atmete tief die frische Morgenluft.

Er war über sich selbst erstaunt. Wieso hatte ihn nicht eine tiefe Erschöpfung befallen? Goethe war wieder nach Weimar zurückgefahren. Unmittelbar zuvor hatte er ihm den letzten Akt seines Wallenstein-Dramas vorgelesen. Endlich war diese Arbeit bewältigt. Noch im Januar hatte er ausgerufen: „Wie will ich dem Himmel danken, wenn dieser Wallenstein aus meiner Hand und von meinem Schreibtisch verschwunden ist. Es ist ein Meer auszutrinken, und ich sehe manchmal das Ende nicht.“ Nun war dieses Meer ausgetrunken, aber Ruhe trat nicht ein; im Gegenteil! Wie nach einem Sommergewitter alle Quellen und Rinnsale hervorsprudeln, so sprangen viele Gedanken in seinen Kopf, welche während der großen Arbeit hatten beiseitegelegt werden müssen.

Die ganze Nacht war er rastlos auf und abgegangen. Sein neues Drama stand ihm wie ein gigantisches Zeitengemälde auf einmal vor Augen und wie in einem gewaltigen Akkord stand es als Gesamtheit vor seinem inneren Ohr. Sein Geist schritt gewaltig fort. Die gesellschaftliche Tragödie des Dreißigjährigen Krieges, sie war ja nur eine Welle in der Geschichte Fluten. Gewaltige Kräfte, Herrscher und Heeresmassen, Schrecklichkeiten und höchstes Gutes, alles das hatte sich im Wechsel von Blütezeiten der Menschheit und finsteren Zeitaltern ausgetobt.

Was war von der Zukunft zu erwarten?

Seine Hoffnungen auf die unmittelbare Verwirklichung des freiheitlichen Staates waren dahin. Genau sechs Jahre war es her, als die französische Nationalversammlung in Paris ihn zum „Ehrenbürger der französischen Revolution“ ernannt hatte. Welcher Terror, welche Kriegswirren waren gefolgt! Als schließlich im März dieses Jahres die Pariser „Ehrenurkunde“ in Jena eintraf, da kam sie wie „aus dem Reich der Toten“; alle Männer, welche sie unterschrieben hatten, waren längst der Guillotine zum Opfer gefallen. Ja, der Untergang des niederdrückenden Feudalsystems war besiegelt, Valmy war das Menetekel! Aber das leichte Band, woran der erhoffte freie Staat hätte geknüpft werden müssen, war vom Terror der Guillotine zerschnitten.

Schaudernd dachte Schiller an den jungen, von Ehrgeiz getriebenen General, dessen Karriere unter Robespierres „Terreur“ begann, dessen Aufstieg seit der Niederschlagung des royalistischen Aufstands in Paris vorgezeichnet schien und dessen selbstherrlicher Charakter sich deutlich in Loeben und Campofornio gezeigt hatte. Alle die jetzt noch, geängstigt von Chaos und gesellschaftlichem Verfall, die Entschlossenheit und Kraft dieses Kriegshelden schätzten und die blendende Fleckenhaut des Tigers bewunderten, würden sich bald ernüchtert und schaudernd von dem Gräuel abwenden, die seine Gewaltherrschaft notwendig mit sich bringen musste. Dieser Charakter wird die Geschicke der Menschheit nicht in eine Richtung lenken, die den erhofften freien Staat fördert. Im Gegenteil, Schiller konnte sich schon ausmalen, wie dieser Emporkömmling sich bald in der Rolle eines Konsuls oder gar im Kostüm eines römischen Imperators gefallen werde.

Schillers Gedanken streiften weiter fort. Gegen allen Widerstand der Welt und den Hohn derer, die sich als weltweise bezeichneten, bestand er mit allen Fasern seines Wesens auf der Möglichkeit einer Staatsordnung, die jeden Menschen, jeden! förderte, damit er alle seine gottgegebenen Möglichkeiten entfalten könne. Sein Geist durchstreifte Zeiten und Länder, Völker und Sitten. Seine Wangen glühten. Wie war es möglich, dass die schönen Blüten der griechischen Kultur, dass die Hoffnungen Athens unter dem kalten Pomp des Römischen Imperiums erstarrten und Jahrhunderte eines finsteren Zeitalters Kunst, Kultur und Technik vergessen machen konnten? Welches Leid wäre der Menschheit erspart geblieben, wäre es damals möglich gewesen, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu fallen!

Platon!

Plötzlich stand, wie ein alter Freund, der unerwartet zu Besuch kommt, die herrliche Gestalt Platons vor Schillers Geist. Er setzte sich in den Sessel und blickte nachdenklich auf das rötlich schimmernde Muster, mit dem die ersten Sonnenstrahlen sein Fenster auf der blauen Tapete abzeichneten. Er dachte an Platons Siebten Brief. Wie klar leuchteten diese Worte aus dem Dunkel der Vergangenheit. Über zweitausend Jahre war das nun her. Platons Schüler und Freund Dion war gerade in Syrakus einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. In dieser Lage sagt Platon den neuen Machthabern: „Wäre es aber hier, unter meinem Freund Dion, tatsächlich zur Vereinigung von Philosophie und Herrschermacht in einer Person gekommen, so wäre dies ein leuchtendes Vorbild für die ganze Menschheit, Hellenen wie Barbaren, geworden!“ Gegen alle Widerstände und praktischen Erwägungen der Machtpolitik sagt Platon den Mördern Dions, dass sie unbedingt dessen Politik fortsetzen müssten, denn in diesem historischen Moment hinge die Zukunft Siziliens, ja der ganzen Menschheit davon ab, ob es gelänge, einen neuen Staatstyp, den Staat der Philosophenkönige, zu errichten. Wie recht hatte Platon damals, als er schrieb: „Es wird also die Menschheit, so erkläre ich, nicht eher von ihren Leiden erlöst werden, bis die berufsmäßigen Vertreter der echten und wahren Philosophie zur Herrschaft im Staate gelangen.“

Schon als Jüngling war Platon ganz erfüllt gewesen vom Drang nach staatsmännischer Betätigung. Doch die Erfahrung, wie mit seinem Freund Sokrates umgegangen wurde, wie man diesen ungerecht zum Tode verurteilte, entfernte ihn von der Politik und von Athen. Zwar fuhr er fort darüber nachzudenken, wie sich im gesamten staatlichen Leben ein Umschwung zum Besseren finden ließe, für das eigene praktische Eingreifen wollte er aber auf den günstigen Zeitpunkt warten.

Wie schön war es, solch einen Geistesfreund zu haben, der zu einem vergleichbaren Zeitpunkt — obwohl zwei lange Jahrtausende voneinander getrennt —, zu einem Zeitpunkt, wo ein großer Moment ein zu kleines Geschlecht vorfindet, völlig gleichartig denkt. Ein Lächeln huschte über Schillers Gesicht: Die Politeia, dieses große Werk hatte Platon zur Erziehung von Staatsbürger geschrieben, genau wie ich meine Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die im Grunde von der Errichtung des freien Staates handeln. Nicht durch Macht oder Gewalt und nicht durch Dolche lässt sich der freie Staat herbeiführen, sondern durch die Charakterbildung der Bürger. Für diese Erziehung des Charakters ist die schöne Kunst von großer Bedeutung, nicht nur die Philosophie, wie Platon schrieb.

Schiller wollte Platons Siebten Brief nochmals zur Hand zu nehmen, aber er brauchte ihn gar nicht zu lesen, so deutlich hatte sich ihm eingeprägt, was Platon berichtete. Platon beschrieb, wie schnell zu seinen Lebzeiten der Verfall der alten Ordnung im gesamten griechischen Kulturkreis voranschritt. Syrakus war die letzte hellenische Großmacht geblieben. Dort, wenn überhaupt irgendwo, musste Platon den Hebel ansetzen. Von dieser Überzeugung durchdrungen war Platon nach Sizilien gereist, um den mächtigen Tyrannen Dionysios den Älteren zur Verwirklichung seiner Staatslehre zu gewinnen. Doch bald musste er unverrichteter Dinge wieder abreisen.

Ganz vergeblich war diese erste Reise nach Syrakus nicht geblieben, im Gegenteil, sie war von unschätzbarem Gewinn. Platon hatte nämlich Dion kennengelernt, der sich die ihm erteilten Lehren rasch und mit großem Eifer aneignete, wie keiner der Jünglinge, die er bis dahin unterrichtet hatte. Als nach dem Tode des Tyrannen Dionysos dessen Sohn Dionysios der Jüngere an die Macht kam, versuchte Dion den noch formbaren Herrscher von Syrakus zum Philosophenkönig zu entwickeln und bat Platon, er möge noch einmal nach Syrakus kommen, um ihm dabei zu helfen.

Wenn Platon seine Entwürfe für Gesetzgebung und Staatsordnung verwirklichen wollte, so war jetzt der Zeitpunkt gekommen. Bei seiner Ankunft fand er aber die ganze Umgebung des Dionysios voller Zwietracht und Dion wurde verleumdet, er strebe nur danach, selbst der Tyrann von Syrakus zu werden. Schon nach drei Monaten ließ Dionysios den Dion unter der Beschuldigung, die Herrschaft an sich reißen zu wollen, mit Schimpf und Schande außer Landes bringen. Wieder war der Versuch gescheitert, den Tyrannen zu erziehen. Platon selbst wurde von Dionysios in Syrakus festgehalten. Zwar zeigte sich Dionysios gegenüber Platon freundlich; wünschte aber, dass er ihn mehr loben sollte als den Dion. Mit größter Eifersucht erstrebte Dionysios, dass Platon die Freundschaft zu ihm höherstelle als die zu Dion.

Schließlich machte dieser Dionysios der Jüngere Platon sogar zum Bürgen dafür, dass Dion nicht etwa Anschläge gegen ihn unternähme. Dann ließ Dionysios Platon aus der Burg entfernen und unter Söldnern in Hausarrest nehmen, wo er seines Lebens keinen Tag sicher sein konnte. Platon befand sich persönlich in einer verzweifelten Lage, gleichwohl sah er es aber als seine unumgängliche Pflicht, noch ein Jahr auszuharren, bevor er schließlich Syrakus verlassen konnte. Kurz darauf landete Dion tatsächlich mit nur 800 Söldnern in Sizilien und zog kampflos in Syrakus ein. Dionysios floh nach Korinth. Dion wurde als gesetzlicher Herrscher der Stadt anerkannt und versuchte, Platons Ideen in die Tat umzusetzen, scheiterte aber am Widerstand der Befürworter der Tyrannis. Er konnte sich nur drei Jahre an der Macht halten. Als er dann ermordet wurde, war mit dem nun einsetzenden Chaos in Sizilien der Untergang des hellenischen Kulturkreises besiegelt. Es folgte das Römische Imperium, finstere Zeitalter voller Gewaltherrscher, Zwangsstaaten und tyrannischen Feudalherren.

Schiller sprang aus dem Sessel auf und lief wieder im Zimmer auf und ab. Urplötzlich war ihm ein altbekannter Dreizeiler eingefallen:

Als Dionys von Syrakus
Aufhörte, ein Tyrann zu sein,
Da ward der ein – Schulmeisterlein.

Diesen Spottvers, den Christian Schubart auf Karl Eugen von Württemberg gemacht hatte, war einer der Gründe für die zehnjährige Festungshaft, die der tyrannische Herzog über Schubart verhängt hatte. Dionysios war in der Tat Lehrmeister für Sprache und Schrift, als er von Dion vertrieben in Korinth lebte. Schubart, der umfassendes Wissen über die Geschichte der Musik besaß, kannte als Quelle dafür den aristotelischen Musiktheoretiker Aristoxenes. Und dessen Geschichte verlieh dem scheinbar harnlosen Spottvers die politische Schärfe, die den Herzog, auf den er gemünzt war, so erzürnte.

Schiller hielt nachdenkend inne. Welches war nochmal die Geschichte, die ihm Schubart damals erzählte, als er ihn auf dem Hohenasperg besuchte? Der Herzog wollte ihn durch den Besuch im Kerker erschrecken und vom Schreiben abbringen. Er aber hatte versucht, Schubart aufzumuntern, und mit ihm über wahre Freundschaft gesprochen. Und da erzählte Schubart, mühsam aus dem Gedächtnis hervorbringend, die Geschichte einer Freundschaft. Sie stammte von Aristoxenes, der sie persönlich in Korinth aus dem Munde des jüngeren Dionysios hatte. Sie handelte von zwei befreundeten Philosophen, von denen der eine wegen angeblicher Verschwörung gegen Dionysios zum Tode verurteilt wurde, und an dessen Stelle der andere Freund als Bürge im Palast blieb. Alle verspotteten den Bürgen, da keiner an die Rückkehr des Freundes glaubte. Als der Freund vor Sonnenuntergang zur Vollstreckung des Todesurteils zurückkam, war Dionysios überwältigt, umarmte beide und bat, sie mögen ihn als dritten in ihrem Freundschaftsbund aufnehmen. Die Freunde lehnten jedoch ab. Das war die Geschichte von Dionysios, die er schon fast vergessen hatte. In welchem neuen Lichte erschien sie nun!

Vom klaren Berg herüber stieg die Sonne. Schiller ging zum Regal, griff, als wäre es das einzige Buch im ganzen Zimmer, aus den kreuz und quer liegenden Bücherstapeln das Buch heraus, welches ihm Goethe kürzlich zugesandt hatte, und schlug es auf. Nach kurzem Blättern hatte er die Stelle gefunden. Seine Augen flogen über die Erzählung des Hyginus:

„Als in Sizilien der höchst grausame Tyrann Dionysios herrschte und sei- ne Bürger qualvoll hinrichtete, wollte Möros den Tyrannen töten. Die Trabanten ergriffen ihn und führten den Bewaffneten zum König. Im Verhör antwortete er, er habe den König töten wollen. Dieser befahl, ihn ans Kreuz zu schlagen. Möros bat um einen dreitägigen Urlaub zur Verheiratung seiner Schwester; er wolle dem Tyrannen seinen Freund und Genossen Selinuntius überliefern, der dafür bürgen werde, dass er am dritten Tage zurückkehre. Der König gewährte ihm den Urlaub zur Verehelichung der Schwester und erklärte dem Selinuntius, wenn Möros nicht an dem Tage sich einstelle, so müsse er die Strafe erleiden; doch Möros wäre dann frei. Als dieser nun die Schwester verehelicht hatte und auf dem Rückweg war, schwoll plötzlich der Strom durch Sturm und Regen so an, dass man weder zu Fuß noch schwimmend hinüber konnte. Möros setzte sich ans Ufer und begann zu weinen, dass sein Freund für ihn sterben solle. Der Tyrann aber befahl den Selinuntius ans Kreuz zu schlagen, weil schon sechs Stunden des dritten Tages vorüber waren und Möros nicht erschien. Selinuntius entgegnete, der Tag sei noch nicht vorbei. Als nun schon neun Stunden verflossen waren, befahl der König, den Selinuntius zum Kreuz zu führen. Während er hingeführt wurde, erst da holte Möros den Henker ein, nachdem er glücklich über den Fluss gekommen war und rief aus der Ferne: Halt, Henker, da bin ich, für den er gebürget! Die Begebenheit wurde dem König gemeldet. Dieser ließ die beiden Freunde vor sich führen, bat um Aufnahme in ihre Freundschaft und schenkte dem Möros das Leben.“

Schiller blickt vom Buch auf. Durchs Fenster drang die milde Augustsonne und im hellen Garten wob sich ein heiterer Farbenteppich. Leuchtend klar stand vor seinem Geiste die tiefe Wahrheit, die sich hinter der verschleierten Gestalt dieser Geschichte verbarg. Schon eilte seine Feder über das Papier:

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
„Was wollest du mit dem Dolche, sprich!“
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!“
„Das sollst du am Kreuze bereuen.“

„Ich bin“, spricht jener, „zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben;
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen -
Ihn magst du, entrinn ich, erwürgen.“...

Zeile für Zeile flog auf das Papier, Schillers
Gedanken eilten den Fingern voraus:

„Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn –
So nehmet auch mich zum Genossen an.
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte.“

Nicht der Dolch, nicht die Gewalttätige Revolution besiegt die Tyrannei, sondern die Kraft des Charakters. Der Kern der ästhetischen Briefe war in dieser für Kinder nachvollziehbaren Ballade ausgedrückt. Schiller erfüllte große Freude, die ihm fast die Tränen ins Auge trieb. Er legte die Feder beiseite und trat in den Garten hinaus. Milde Luft empfing ihn und ein leiser Gruß rauschte ihm von den Kronen der Bäume entgegen. Weit hinter ihm lag das Alltägliche in wesenlosem Scheine. Er war froh! Er hatte plötzlich wieder Lust auf Balladen bekommen. Im Buch des Hyginus war noch reichlich Stoff vorhanden. Alles versprach, ein herrlicher Tag zu werden. Mit nächster Post sollte die Bürgschaft nach Weimar gehen. Schiller trat aus dem Gartentor und ging mit weit ausgreifenden Schritten am Ufer des Leutra-Baches entlang zur Saale hinunter. Auch die Drachen-Geschichte bei Hyginus schien für eine Ballade geeignet, und dann musste auch noch das Eleusische Fest fertiggestellt werden...