Ein Kreisschluss im poetischen Dialog
zwischen Orient und Okzident


„Ein besonderer Glücksfall für den kulturellen Dialog zwischen dem Morgen- und dem Abendland ist Goethes West-östlicher Diwan. Dass nun dieses Werk den pakistanischen Dichterphilosophen Muhammad Iqbal zu einer ost-westlichen Antwort inspirierte, ist mehr als ein Glücksfall. Es ist wohl die edelste, höchste und poetischste Form der Diskussion, die zwischen Okzident und Orient bisher stattfand.“ Mit diesen Worten eröffnete ein Mitglied des Poesievereins Dichterpflänzchen e.V. die Veranstaltung am 10.10.2010 im Bürgersaal in Wiesbaden-Biebrich.

Neben deutschen Besuchern waren auch viele Gäste aus den unterschiedlichsten Ländern des Orients anwesend. Alle waren gekommen, um dem poetischen Zwiegespräch der Dichter des Morgen- und des Abendlands zu folgen, welches unter dem Titel „Wir sind zwei Stimmen einer Melodie“ angeboten wurde.

Nach einer musikalischen Eröffnung, einer orientalischen Improvisation des Gitarristen Benny Geyer, wurde zunächst die Liebesphilosophie des Mevlana Dschelaleddin Rumi vorgestellt, der zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Konya (Türkei) wirkte und den Muhammad Iqbal als seinen spirituellen Lehrer betrachtete.


Duo „Ben Yonca“

Der österreichische Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall, ein Zeitgenosse Goethes, sagt über Mevlanas Wirken: „Auf den Flügeln der höchsten religiösen Begeisterung schwingt sich Mevlana nicht wie andere lyrische Dichter, und selbst Hafis, bloß über Sonnen und Monde, sondern über Zeit und Raum, über die Schöpfung, über den Urvertrag der Vorbestimmung, und über den Spruch des Weltgerichts in die Unendlichkeit hinaus, wo er mit dem ewigen Wesen als ewig Anbetender, und mit der unendlichen Liebe als unendlich Liebender in Eines verschmilzt...“

In Mevlanas Gedichten, die auf Deutsch und auf Türkisch vorgetragen wurden, klingt das so:

Gotteshauch

Siehe, ich starb als Stein und stand als Pflanze auf,
Starb als Pflanze, nahm drauf als Tier den Lauf,
Starb als Tier und ward ein Mensch, Was fürcht' ich dann,
Da durch Sterben ich nie minder werden kann?
Wieder, wenn ich werd' als Mensch gestorben sein,
Wird ein Engelsfittich mir erworben sein,
Und als Engel muss ich sein geopfert auch,
Werden, was ich nicht begreif: ein Gotteshauch.

In dieser Liebe sterbet

O sterbet, o sterbet, in dieser Liebe sterbet -
Wenn ihr in Liebe sterbet, dass ihr den Geist erwerbet!
O sterbet, o sterbet, und fürchtet euch vorm Tod nicht -
Wenn ihr vom Staub befreit seid, dass ihr den Himmel erbet!



Danach wurden einige Gedichte von Schemseddin Hafis, dem wohl bekanntesten persischen Dichter des 14. Jahrhunderts, vorgestellt. Hammer-Purgstall schickte nämlich eine Übersetzung der Gedichtsammlung (Diwan) des Hafis an Goethe. Goethe war von Hafis' Diwan so begeistert , dass er seinen eigenen, den „West-östlichen Diwan“ schuf.

So erreichte die orientalische Philosophie auch über die Gedichten von Hafis Goethes westliche empfängliche Seele. Was Goethe an Hafis' Ghaselen so anziehend fand, ist gerade die von Mevlana beeinflusste mehrdeutige Darstellung der Liebe, die sich vom Irdischen zum Himmlischen entwickelt. An diesem Abend wurden auch einige Gedichte von Hafis auf Deutsch und im persischen Original zu Gehör gebracht. Im West-östlichen Diwan tritt Goethe mit dem Dichterkollegen aus Persien in Dialog. Das klingt dann so:

So, Hafis, mag dein holder Sang,
Dein heiliges Exempel
Uns führen, bei der Gläser Klang
Zu unseres Schöpfers Tempel.



oder

Aus wie vielen Elementen
Soll ein echtes Lied sich nähren,
Dass es Laien gern empfinden,
Meister es mit Freuden hören.



Wieder gab eine musikalische Pause den Zuhörern Zeit, das Gehörte zu reflektieren. Nun waren die Voraussetzungen geschaffen, um auf das Werk des pakistanischen Dichters und Philosophen Muhammad Iqbal einzugehen. Mit seiner Botschaft des Ostens, einem Gedichtband aus dem Jahre 1922 antwortet Iqbal etwa 100 Jahre später explizit auf Goethes West-östlichen Diwan und stellt dessen Faust neben das bekannteste Werk von Mevlana Dschelaleddin Rumi, dessen Mathnawi. Die Werke Mevlanas sind ununterbrochen über Jahrhunderte vertraute Lektüre im Orient. 700 Jahre später verwendete Iqbal die Versform des Mathnawi in seinen philosophischen Werken.

Für beide Weltanschauungen - die traditionelle Liebesphilosophie auf Grundlage des Korans und die westliche Literatur der Zeit nach der Aufklärung - entwickelte Iqbal neue Gedanken und Ansichten, die er in seiner Gedichtsammlung „Payam-i Mashriq“, auf Deutsch: “Die Botschaft des Ostens”, veröffentlichte. Dieses Werk beeindruckte wiederum die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel so, dass sie es 1954 während ihrer Tätigkeit in Ankara gleichzeitig ins Deutsche und Türkische übersetzte.

Iqbal fand, dass "beide Philosophen"– Goethe und Mevlana – zu ähnlichen Erkenntnissen gelangten. Obwohl sie aus unterschiedlichen Kulturen stammten und in weit entfernten Jahrhunderten lebten, konnten sie sich unterhalten. Und Iqbal hat sie bei ihrem Gespräch im Himmel belauscht.

Dschalal und Goethe

Der kluge Deutsche fand im Paradeis
Gesellschaft an dem Persergreis.
Auch er – wie jener Hohe – ein Poet,
Der wohl ein Buch hat, doch ist kein Prophet.
Er las ihm, der uralter Weisheit kund,
Die Mär von Satan und des Weisen Bund.
Sprach Rumi: “Du, der Wortes Geist erfasst,
Die Engel jagst und Gott als Beute hast -
Dein Denken sich im Herz verborgen hält,
Erschafft aufs Neue dann die alte Welt!
Im Bild hast du der Seele Drang geschaut,
Die Perle in der Muschel neu gebaut,
Der Lieb’ Symbolik kennt nicht jedermann,
Nicht jeden nimmt man hier im Kloster an.
Der Kluge und Vertraute weiß, was bliebe:
Vom Teufel der Verstand, von Adam Liebe!”



Iqbal hat, wie Mevlana und Goethe, der verwandelnden Kraft der Liebe immer große Bedeutung zugewiesen. Diese Liebe existierte von Anfang an und wirkte im Einklang mit der Vernunft. Doch im Laufe der Zeit verloren die Menschen diese Einsicht und vertrauten mehr und mehr auf den bloßen Verstand. Die Kritik am Gegensatz von Wissenschaft und Liebe ist ein Hauptthema Iqbals, nicht nur in der Botschaft des Ostens.

Die Dichterpflänzchen stellten zwei beispielhafte Gedichte Iqbals in der Übertragung von Annemarie Schimmel vor:

Der Bücherwurm

Ich hört’ in meiner Bücherei des Nachts
Den Bücherwurm den Schmetterling befragen:
“Ich hab mein Nest in Avicennas Blättern,
Bin in Farabis Manuskript beschlagen -
Den Sinn des Lebens hab ich nicht verstanden,
Ganz sonnenlos leb ich in finstern Tagen!”
Wie schön sprach drauf der halbverbrannte Falter:
“Nach diesem Punkt darfst du nicht Bücher fragen:
Nur Fieberglut kann neues Leben bringen,
Nur Fieberglut gibt deinem Leben Schwingen!”


Wissenschaft und Liebe

Die Wissenschaft:
Kann aller Zahl Geheimnisse durchdringen,
Und Zeit und Schicksal liegt in meinen Schwingen;
Mein Auge ist beschränkt auf diese Seite,
Mir ist es gleich, was sie vom Jenseits bringen;
Und hundert Weisen spielt mein Instrument -
Zum Markt trag' ich, was man Geheimes kennt!

Die Liebe:
Dein Zauber macht das Meer zur Flammenflut,
Die Luft wird Feuer und trägt gift'ge Brut!
Als du mein Freund warst, warst du reines Licht;
Du trenntest dich von mir – dein Licht ward Glut.
Bist in der Gottheit Kammer doch geboren -
Hast dich in Satans Stricke nun verloren!

Komm, mache diesen Staub zum Rosenfeld,
Verjünge wieder diese alte Welt!
Komm, nimm ein Körnchen meines Herzleids ab,
Zum Paradies mach wüstes Himmelszelt!
Wir sind vom Schöpfungstag verbunden – sieh:
Wir sind zwei Stimmen einer Melodie!



Wir sind zwei Stimmen einer Melodie! – der Titel des Rezitationsprogramms stammt also aus diesem Gedicht Iqbals.

Mit einigen Szenenausschnitten aus Goethes Faust zur tätigen, schöpferischen Liebe und mit einem türkischen Lied, dargebracht vom Duo „Ben Yonca“ (Benny – Gitarre und Yonca - Gesang), schlossen die Dichterpflänzchen die unterhaltende und gleichermaßen informative Veranstaltung.



Im Schlusswort, nach dem anerkennenden und langen Applaus des Publikums, gab die Sprecherin noch ein Geheimnis preis: Dass nämlich die Dichterpflänzchen während der Arbeit am Programm zu Muhammad Iqbal in Gedankenaustausch mit dem persischen Wissenschaftler Ghorbanali Askarian standen. Herr Askarian hat im Jahre 2009 seine Doktorarbeit zum Dialog zwischen Goethe und Iqbal (*) veröffentlicht und schrieb an die Dichterpflänzchen:

„Wie aus meiner Dissertation ersichtlich, habe ich mich immer dafür interessiert durch meine Arbeiten einen Schritt in Richtung kultureller Annäherung verschiedener Nationen zu tun. Da auch Sie das gleiche Interesse haben, will ich Ihnen sagen, dass Sie mir aus dem Herzen sprechen. Goethe und Iqbal haben uns den poetischen Weg der Annäherung der Kulturen gezeigt und ihn durch ihr Schaffen vorgezeichnet. Nun ist dieser Weg bereit und wir sollen ihn betreten und zu unserem Anteil weiterführen.“




* Hinweis:
Ghorbanali Askarians Dissertation ist im Weißensee Verlag Berlin unter dem Titel: Ost-westliche Begegnung in der Poesie – Muhammad Iqbals „Botschaft des Ostens“ als Antwort auf Goethes „West-östlichen-Divan“, ISBN 978-3-89998-152-0, erschienen.