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25 Jahre „Dichterpflänzchen“
ein Poesieprojekt 1993 – 2018


Am 23.01.1993 traf sich der Poesiekreis zum ersten Mal und schon mit der Einladung erfolgte bereits die Taufe, denn diese lautete so: „es trifft sich der Kreis der Dichterpflänzchen,...

Die Zielsetzung von damals will ich in verkürzter Form wiedergegeben:

....Die Poesie ist aus unserem Alltag verschwunden. Zeitgenössische Poeten existieren nicht.
Sogar die Fähigkeit, klassische Werke zu reproduzieren, ging verloren. ...
Etwas besitzen wir jedoch noch von unseren klassischen Dichtern: Auch wenn sie nicht mehr Erklingen, in Büchern sind die Werke aufgezeichnet. Dort liegen sie zwischen den Seiten, wie zum Trocknen gepresste Blumen. Es muss gelingen, die Samen dieser Blumen zu finden, in fruchtbaren Boden zu legen und frische Pflänzchen zu ziehen.....
Außerdem gibt es kein größeres Vergnügen, als genialen Dichtern die Geheimnisse ihrer Kunst abzulauschen.... Womit beginnen?
a) Studium der Anweisungen zum Vortrag von Gedichten, welche von klassischen Dichtern überliefert sind.
b) Das Deutsche Lied ermöglicht die „Rückübersetzung“ der Komposition zur Rezitation.
c) Gibt es ein dem Belcanto entsprechendes Belparlando?
d) Anlegen einer Sammlung von guten Tonaufzeichnungen.
e) Die Arbeit sollte nicht auf die deutsche Sprache beschränkt sein.


25 Jahre Wiesbadener Poesiekreis „Dichterpflänzchen“

Ein Vierteljahrhundert mit Begeisterung im Garten der Poesie.
Die aktiven Mitglieder des Poesievereins Dichterpflänzchen:

Mitglieder
Die Geburtsstunde der Dichterpflänzchen
Viele der heute noch aktiven Mitglieder kommen aus einer Laienspielgruppe, die sich Ende der 80er zum Ziel gesetzt hatte klassische Dramen von Schiller und Shakespeare an Schulen in ganz Deutschland anzubieten. Berufliche und private Veränderungen führten aber zur Aufgabe des zeitintensiven Hobbys. Die den klassischen Dramen zu Grunde liegenden Kompositionsprinzipien finden sich aber auch in Balladen. So entschied die Theatergruppe sich um Gedichte zu kümmern. Am 23.01.1993 traf sich der Poesiekreis zum ersten Mal und schon mit der Einladung erfolgte bereits die Taufe, denn diese lautete so: „es trifft sich der Kreis der Dichterpflänzchen,..“

Für alle Teilnehmer war das Feld der Poesie absolutes Neuland und keiner wusste genau, auf was er sich bei der Mitarbeit einließ. Vereinbart wurde zunächst, sich mit einer Reihe von Gedichten zu beschäftigen und das individuelle Erarbeitete in regelmäßigen Treffen gemeinsam zu diskutieren.

Die regelmäßige Arbeit mit Gedichten
Fast 2 Jahre fand die Poesieerkundung „so-zu-sagen“ im stillen Kämmerlein statt. Neben dem Erlernen von Gedichten wurden Rezitationsbeispiele gesucht, alte Tonaufnahmen aufgestöbert, Rezitationsregeln von klassischen Dichtern zusammengetragen, Kontakte zu Sprechlehrerinnen, Regisseuren und Schauspielern geknüpft. Bei den regelmäßigen Arbeitstreffen wurden von den Darbietungen der Teilnehmer Tonaufnahmen gemacht und anschließend kritisch besprochen

Diese Arbeitstreffen finden heute noch – nach 25 Jahren - in fast regelmäßigen Abständen von 2 Wochen in den Wohnzimmer der 8 aktiven Mitglieder statt. Erst wird 3-4 Stunden konzentriert gearbeitet und anschließend bei einem Abendessen und einem guten Glas Wein weiterdiskutiert.

Portraitfotos aller Dichterpflänzchen anbei (Martha Schauerhammer, Lutz Schauerhammer, Ralf Schauerhammer, Gabriele Liebig, Ulla Cicconi, Hartmut Borchers, Rozita Fazaee, Muriel-Mirak-Weißbach, Rosa und Jonathan Tenenbaum – zur Zeit Berlin)

Vom Verstehen zur Rezitation.
Die Wiesbadener Schauspielerin Christiane Zerda, sie verstarb 2016 im Alter von 103 Jahren, lehrte den Dichterpflänzchen sich Gedichten zu nähern und diese zu sprechen. Sie begleitete die Arbeit des Poesiekreises über viele Jahre, gab Einzelunterrichte und Workshops zum Thema: „Gedichte sprechen“. Zu Beginn empfahl sie: „Lies den Texte erstmal, wie wenn du eine Zeitung lesen würdest. Ohne Emotion, ohne Pathos, ganz einfach als Information oder Nachricht.“
Ihr sprechtechnischer Unterricht umfasste Übungen und Tipps, wie man richtig atmet, eine tragfähige, wohltönende Stimme entwickelt und alle Laute so ausspricht, wie es die hochdeutsche Bühnensprache verlangt.

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Christiane Zerda (im hohen Alter mit den Dichterpflänzchen auf der Bühne)

Auf dem richtigen Weg
Die folgenden Jahre waren Jahre der „Expansion“. Die Mitglieder trauten sich viel zu; mit „Gott und der Welt“ kamen sie in kritische Diskussion und versuchten mit den unterschiedlichsten Organisationen Verbindungen aufzubauen und experimentelle Erfahrungen zu sammeln.

Das Repertoire der Dichterpflänzchen war enorm gewachsen, die Instrumente (Sprech-werkzeuge) waren geschult und die vielen positiven Reaktionen des Publikums zeigten, dass sie den richtigen Weg gefunden zu hatten.

Die Zahl der Veranstaltungen stieg auf über 60 pro Jahr an. Ausgehend von Wiesbaden erschloss sich der Verein im Umkreis von bis zu einer Stunde Fahrtzeit neues Publikum. In der Neurologischen Reha-Klinik von Bad Camberg traten die Dichterpflänzchen bis 2002 fast monatlich auf und gehörten praktisch zu den therapeutischen Maßnahmen dieser Klinik. Für viele Patienten wurde die Poesie zur Stütze in der Bewältigung ihrer persönlichen Lebenskrise.
In Zusammenarbeit mit der Stadt Bad Nauheim wurde in den Trinkkuranlagen eine musikalische Lesung zu Franz Schubert veranstaltet, es kamen 110 Besuchern. Ein Besucherrekord, wie die Kurverwaltung später mitteilte.

Experimente
Die Dichterpflänzchen beteiligten sich am Schüler-Projekt „Poesie“ im Gutenberg Gymnasium in Mainz, sie waren Gast im Marie-Seebach-Stift in Weimar und 1996 erfolgte der Start eines regelmäßigen Poesieangebotes in der Jugendstrafanstalt Wiesbaden durch Ralf Schauerhammer über 2 Jahre lang.

Immer wieder versuchte der Verein mit Lehrern oder Schulen in Verbindung zu kommen. So wurden Kontakte zur Gesamtschule und Realschule Nierstein/Oppenheim geknüpft, um Schülern zwischen 9 und 13 Jahren im Deutschunterricht Balladen zu präsentieren.
Bei der anschließenden Bewertung der Schüler (Alter unabhängig) erhielt Schillers „Bürgschaft“ (unter anderem standen auch Goethes „Zauberlehrling“ und Fontanes „John Maynard“ zur Auswahl) mit Abstand den ersten Platz, nur ein Schüler hatte Schillers „Handschuh“ bevorzug, „weil er am kürzesten war“, wie er sagte. Die Lehrerin verlangte anschließend, dass die Hausaufgaben in gereimter Form geschrieben werden sollten und erklärte verwundert, dass alle am nächsten Tag dieser Aufforderung nachgekommen waren; im Gegensatz zu sonst, da oft die Hälfte der Klasse keine Arbeiten ablieferte.

Es entwickelte sich ein intensiver Gedankenaustausch mit dem Schauspieler und Rezitator Alfred Querbach aus Karlsruhe, den die Mitglieder bei der Semestereröffnung der vhs-Schierstein kennenlernten.

Auch Lutz Görner, der Gründer des Rezitheaters Köln, konnte für einen Workshop im Frankfurter Hof in Mainz gewonnen werden. Alle Teilnehmer erlangten ernüchternde Einblicke in die professionelle Arbeit.

1999 war das Jahr der Goethe-Geburtstagsfeiern. Auch die Dichterpflänzchen boten an historischer Stätte in der Weinstube des Biebricher Schlosses, genau an Goethes 250. Geburtstag, am 28. August, vor 120 Besuchern eine musikalische Lesung zu Goethes Kuraufenthalt in Wiesbaden an.

Zur evangelischen Gemeinde in Dalsheim entwickelte sich ein enger Kontakt, der durch eine Benefizveranstaltung zu Gunsten der Orgel entstand. Im Jahr 2003 führte der Verein dort das speziell für Kinder von Gabriele Liebig entwickelte Programm „Dichter können wirklich zaubern“ unter Mitwirkung vieler Kindern im Alter von 10-14 Jahren auf.

In Eltville präsentierten die Dichterpflänzchen als Eröffnungsprogramm des Gutenberg-Winters 2013 die Veranstaltung „Plaudereien aus dem Setzkästchen“. Mit Erzählungen und Szenen aus dem Leben des Erfinders Johannes Gutenberg und nahmen sie die Zuschauer mit auf eine vergnügliche und spannende Zeitreise in das 15. Jahrhundert.

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Die Gutenbergbesetzung in historischen Kostümen

Weltpoesie ist Weltversöhnung
Im Jahre 2000 griff der Verein mit Rezitationsprogrammen den Dialog der Kulturen auf. Der Besuch des iranischen Staatschefs Chatami in Weimar gab den Anstoß dazu. Programme wie „Aus dem West-Östlichen Divan“ oder das „Friedrich Rückert Portrait“ wurden zu einer Reihe erfolgreicher Veranstaltungen in Wiesbaden und Frankfurt.

Nach und nach erschlossen sich die Dichterpflänzchen die Poesie fremder Kulturen. Die Vorabreiten hatten die fleißigen Orientalisten und Übersetzer des beginnend im 19. Jahrhundert geleistet, wie Hammer-Purgstall oder Friedrich Rückert, später dann Annemarie Schimmel und viele mehr. Wie reich ist doch dieser Schatz, den uns diese Weltpoeten hinterlassen haben! Sie haben Gedichte aus allen Regionen der Welt ins Deutsche übertragen, so dass wir den großen Dichter Persiens und der Türkei, Dichterkönigen aus Indien und den arabischen Ländern begegnen können.

Zunächst wurden die Rezitationen nur in den deutschen Übertragungen angeboten. Unter den Besuchern waren aber immer schon die Muttersprachler aus diesen Ländern. Über die Jahre wuchs so ein Netzwerk von Mitwirkenden aus all diesen Ländern und die Arbeitstreffen wurden von türkischen, persischen, arabischen, russischen, mongolischen, indischen und Mitbürgern aus anderen Kulturen besucht. Es dauerte also nicht lange, bis die musikalischen Lesung der Dichterpflänzchen zweisprachig oder mehrsprachig angeboten wurden.

Es eröffneten sich Kooperationen mit vielen internationalen Organisationen. Zum Beispiel mit der Società Dante Alighieri Wiesbaden mit einem Programm zu Francesco Petrarca; mit der Deutsch-Indischen Gesellschaft Mainz mit einer Vorstellung des klassischen Dichters Kalidasa und dessen Einfluss auf Johann Wolfgang Goethe. Mit einer Reihe von Türkischen Vereinen, darunter auch die Süleymaniye Moschee in Wiesbaden, veranstalteten die Dichterpflänzchen die „Mevlana-Feste“ und „Nasreddin Hodscha Feste“ in Mainz, Ingelheim und Wiesbaden bei denen türkische Jugendliche die Geschichten von Hodscha in Szene setzten.

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Anas (Oud), Rozita und Ahmet im Wiesbadener GDA Kurstift Hildastraße 2018

Immer wieder zogen die Dichterpflänzchen mittels der Poesie in die Welt hinaus. So wanderten sie auf Goethes Spuren durch den Rheingau, präsentierten die deutschen Dichter J. W. Goethe, Friedrich Schiller, Hermann Hesse und Wilhelm Busch in englischen Übertragungen Gästen aus Übersee, stellten in Mainz den palästinensischen Dichter Mahmut Darwish vor und berichteten über den pakistanischen Dichter Mohammad Iqbal, der in einem Gedichtband explizit auf Goethes „West-östlichen Diwan“ antwortet.


Die Türkisch-Deutschen Poesiefestivals.
Eine bereits lange bestehende Freundschaft zu einer türkischen Familie führte zur Realisation der „Türkisch-deutschen Poesiefestivals“. Das erste Festival fand 2011 in Istanbul in Zusammenarbeit mit den Schülern des türkischen Gymnasiums CAL statt.

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Schüler und Schülerinnen des CAL beim Türkisch-deutschen Poesiefestival 2013

Seit 2011 gestalteten die Dichterpflänzchen fast jedes Jahr mit Schülern und Schülerinnen diese zweisprachigen Poesiefeste abwechselnd in Istanbul und in Wiesbaden, hier in Zusammenarbeit mit der Oranienschule.

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Die türkische Schauspielerin Betül Arim mit Schülerinnen und Schülern der Oranienschule

Der Leitspruch, der als Untertitel das Logo der Dichterflänzchen ziert und die Tätigkeit des Vereins treffen beschreibt: „Weltpoesie ist Weltversöhnung“ war durch die zahlreichen mehrsprachigen Lesungen bestätigt. 2014 wurden die Dichterpflänzchen und ihre Gäste aus Istanbul, darunter die Schauspielrinnen Aycen Inci und Betül Arinm, der Generalkonsul der Republik Türkei aus Frankfurt und die Stadtabgeordnete Nilüfer Türütgen aus Istanbul/Fatih (der Partnerstadt Wiesbadens) von OB Sven Gerich der Stadt Wiesbaden im Rathaus empfangen.

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Einladung der Dichterpflänzchen und ihrer Gäste im Rathaus Wiesbaden 2014

Die Vereinsgründung 2007
Im Dezember 2006 entschieden sich die Mitglieder den Poesiekreis als gemeinnützigen Verein zu etablieren. Im Januar 2007 lag der Eintrag im Vereinsregister und die Gemeinnützigkeit vor. Mit diesem Schritt wollten die Dichterpflänzchen ihre Unabhängigkeit von jedweder politischen und religiösen Ausrichtung dokumentieren.

2017 nahm der Poesieverein folgerichtig auch an der ersten Vereinsmesse teil, die die Stadt Wiesbaden im Foyer des Rathauses ausrichtete.

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Ulla Cicconi am Stand der Dichterpflänzchen bei der Vereinsmesse 2017

Eigene Gedichte
Einen Dichter haben die Dichterpflänzchen auch in ihren Reihen. Das Vorstandsmitglied Ralf Schauerhammer schreibt sein Leben lang Gedichte. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er kein neues Werk zur Diskussion stellt. Inzwischen hat er im Selbstverlag eine Querschnitt seines Schaffens veröffentlicht. Das Buch „Flügelpferdchens Federlesen“ erscheint bereits in der zweiten Auflage und ist über den Verein zu erhalten.

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Titelblatt des Gedichtbandes von Ralf Schauerhammer


Was passiert im Jubiläumsjahr 2018?
Nach mehreren zweisprachigen Lesungen zur Poesie des indischen Dichterphilosophen Rabindranat Tagore, die in Zusammenarbeit mit der Fachschaft Indologie der Universität Mainz unterstützt wurden, betätigten sich die Dichterpflänzchen gemeinsam mit Dr. A. Banerjee im April diesen Jahrs als Herausgeber des Buches „Zeitloser Rabindranath Tagore“. Es enthält zahlreiche interessante Artikel von namhaften Indienkennern; darunter auch Dr. Martin Kämpchen. Der Verkaufserlös geht als Spende an eine Stiftung, die sich in Indien um die Ausbildung elternloser Jugendliche kümmert.

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Titelblatt des Buches über Rabindaranth Tagore

Jubiläumsfest am 29.09.2019 in Wiesbaden-Biebrich

Unter dem Titel: „In 80 Versen um die Welt“ findet am Samstag, den, 29.09.2018 um 17 Uhr im Bürgersaal Galatea-Anlage Wiesbaden-Biebrich die Jubiläumsfeier statt. Es ist ein poetisches Kaleidoskop, dessen farbige und zauberhafte Musik- und Sprachbeiträge von befreundeten Künstlern aus vielen Kulturen gestaltet werden. Der Eintritt ist frei; zum Schluss (gegen 18:30 Uhr) wird ein kleiner Umtrunk angeboten, bei dem Gäste und Mitwirkende auf die nächsten 25 Jahre anstoßen können.

Über alles, was die Dichterpflänzchen anbieten, können Sie sich auf deren Homepage informieren (www.dichterpflaenzchen.com).


Ohne zu übertreiben kann man sagen, dass die Dichterpflänzchen inzwischen zu einer festen Instanz im kulturellen Leben in Wiesbaden und im Rhein-Main-Gebiet geworden sind. Viele Zuschriften und Kommentare der Besucher unserer Veranstaltungen berichten, dass Sie die anspruchsvollen und aktuellen Rezitationsveranstaltungen in diesen pessimistischen und Krisen geschüttelten Zeiten gerade zu erwarten. Neuzeitliche Dichter suchen den Kontakt und bitten um einen Kommentar zu ihren Werken, Theaterschaffende (Regisseure, Schauspieler und Sänger) besuchen unsere Veranstaltungen und diskutieren mit uns die Konzepte der Klassik heute. Seit der Gründung der Dichterpflänzchen erreichte der Poesieverein jährlich etwa 1200 Zuhörer. Und wenn auch selbst noch keine „Profis“, können die Mitglieder durch die ernsthafte, tiefe Beschäftigung mit den Gedichte, deren Interpretation und Präsentation mehr und mehr Schillers Anforderung an die Kunstschaffenden erfüllen:
„Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben – bewahret sie! “

Lutz Schauerhammer
(1. Vorstand)