Die Macht und Ohnmacht des Theaters


Was kann Theater heute noch bewegen? Wie muß man "alte" Stücke interpretieren, wie sie auf die Bühne bringen, damit sie den modernen Menschen erreichen? Diese Fragen suchten die Dichterpflänzchen bei ihren diesjährigen Schillerfesten in Mainz und Wiesbaden zu beantworten. Das Programm erzählte eine hübsche Geschichte über eine Gruppe theaterbegeisterter junger Leute, die bei der Probe von Schillers Fiesko auf solch fundamentale Fragen stoßen. Antworten suchen und finden sie bei Theaterleuten und Dichtern von Aischylos bis Max Reinhardt.

von Rosa Tennenbaum
 
"Auf den Bretter, die die Welt bedeuten", bewegten sich die Dichterpflänzchen beim diesjährigen Schillerfest (Fotos der Aufführung). Die Kraft, die vom Theater ausgeht, war schon einmal größer als heute. Das liegt nicht in erster Linie am Fernsehen, sondern an den Theatern selbst, die mit immer absurderen Inszenierungen und Kollagen das Fernsehen zu übertreffen suchen. Doch das hat man "alles bequemer und besser zu Hause", wie es in Schillers Parodie "Shakespeares Schatten" heißt, warum sollte man ins Theater gehen, wenn man dort nur schlechtes Fernsehen präsentiert bekommt?
 Was kann das Theater heute noch bewirken? lautete denn auch die Frage, die die Dichterpflänzchen aufwarfen. Ist es nicht längst überholt? Die Theater selbst scheinen dieser Meinung zu sein, wenn sie mit Filmausschnitten und Videoprojektionen ihre Produktionen glauben aufmöbeln zu müssen. Dabei hat das Theater etwas, was weder Fernsehen, noch Kino ersetzen können. Es ist lebendiges Spiel, das in diesem Moment hervorgebracht wird, und der Zuschauer ist Teil davon. Doch Theater ist noch mehr, viel mehr.
 Dieses Jahr erzählten die Dichterpflänzchen dem geneigten Publikum eine Geschichte, die Geschichte von Karl, einem vereinsamten alten Mann mit einem kleinen Haus, einer großen Bibliothek und einer Schillerstatue im Vorgarten. Eines Tages schneit ihm Jasmin ins Haus. Ihre Freunde von der Laienspielgruppe belagern bald Karls Bibliothek, die sie zum Probenraum für Schillers Jugendstück "Die Verschwörung des Fiesko zu Genua" umfunktionieren. Fiesko, so stellen sie bald fest, ist ein totalitärer Charakter, ein Volksverführer, ein richtiger Rattenfänger. Muß man diese Figur nicht mit Attributen wie SS-Uniform oder Springerstiefel ausstatten, damit das heutige Publikum diesen schillernden Charakter richtig einordnet?
 Sie forschen nach, holen sich Rat bei Experten wie Max Reinhardt und befragen die Dichter selbst. Schiller, Heine, Lessing, Shakespeare erklären, was Theater ist, warum es diese magische Kraft auf uns ausübt. Weil unser Leben "eng begrenzt und arm an Gefühlsinhalten" ist, uns gewöhnlich "zu wenig für die uns angeborenen Fähigkeiten, zu lieben, zu hassen, zu jubeln, zu leiden" bietet, wie Max Reinhardt in seiner berühmten "Rede über den Schauspieler" erklärt. Im Theater durchleben wir alle denkbaren Situationen des Lebens, wir sehen, wie Menschen Krisen meistern oder ihnen unterliegen und warum. Doch die Schaubühne ist nicht nur eine Schule des Lebens, sie ist auch und nicht zuletzt ein Schauplatz der hohen Staatspolitik. Wenn sie auf billige agi-prop Manier verzichtet und das geheime Räderwerk dahinter bloßlegt, wenn sie den Ideen, den Ränkespielen, dem Machthunger, der Unterwürfigkeit nachspürt, kann sie eine staatspolitische Schule sein, die jede Diplomatenschmiede übertrifft.
 Die Griechen waren die unübertroffenen Meister in dieser Kunst, wie eine Szene aus der Orestie des Aischylos eindrucksvoll unterstrich. Orest, der Letzte aus dem Stamm der Atriden, sucht bei der Göttin Athene Schutz vor den Erynnien, den Rachegöttinnen, die ihn zu Tode hetzen wollen, nachdem er seine Mutter Klytämestra ermordete. Diese wiederum hatte ihren Gatten Agamemnon, der den Heerzug der Griechen gegen Troja angeführt hatte, nach seiner Rückkehr erschlagen. Nun verklagen sich Orest und die Erynnien gegenseitig vor Athene, der Göttin der Weisheit; sie soll diesen Streit schlichten. Athene aber weist den Fall an die Menschen zurück. Sie gründet einen Blutgerichtshof und setzt weise Männer als Richter ein, die entscheiden sollen.
 Die Gerichtsverhandlung mit Anklage, Beweisführung und Verteidigung läuft genau so ab wie heute – die Prozessführung, die Aischylos im Jahr 459 vor Christus zum ersten Mal auf der Bühne zeigte, hat heute noch in jedem ordentlichen Gericht Gültigkeit, sie gilt 2500 Jahre später immer noch! Doch der Dichter selbst hatte das gar nicht beabsichtigt, es war sozusagen ein Nebenprodukt. Aischylos wollte vielmehr mit seiner Orestie den Athenern in einer äußerst schwierigen Zeit eine Richtschnur geben. Diese hatten nämlich durch einen Beschluß in der Volksversammlung gerade den Adelsrat, das höchste politische Gremium, entmachtet. Das Volk wollte sich selbst regieren, doch die Demokratie war Neuland, es gab keine historische Parallele, die die Volksversammlung hätte zu Rate ziehen können. Entsprechend groß war die Erschütterung, die Unruhe, die Sorge und Unsicherheit, von denen diese stolze Entscheidung begleitet wurde. Seit Menschengedenken hatte der Adel geherrscht, nun stellte sich der Bürger mit ihm auf eine Stufe. Die Jahrhunderte alte Ordnung wurde geschleift und eine neue gestiftet, für die es kein Beispiel gab.
 Aischylos bestärkt die Athener in ihrem Entschluß, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, indem er Athene die Entscheidung über den Mordfall an die Menschen zurückverweisen läßt. Nicht göttliche Instanz soll den Fall lösen, der Mensch selbst ist Schöpfer seines Glücks und Richter über seine Taten. Die Schutzgöttin der Stadt tritt hinter die Autorität der Bürger zurück.
 Diese Szene war der Höhepunkt des Programms, und ihre Aktualität erstaunte, ja erschütterte viele Zuschauer tief. Das kann Theater sein! Der Dichter, so forderte Schiller, "bereite uns von der Harmonie des Kleinen auf die Harmonie des Großen; von der Symmetrie des Teils auf die Symmetrie des Ganzen" vor. Ein wirkliches Kunstwerk ist immer ein Kosmos im Kleinen, der die Gesetzmäßigkeiten im Großen widerspiegelt, fassen die Mitglieder der Theatergruppe ihre Erkenntnisse zusammen. Das ist die Wahrheit der Kunst. Eine "uncoole" Bemerkung für uns moderne Zeitgenossen, stellen sie fest, deshalb muß man die Zeitgenossen mit Parodien und Kommodien necken.
 Die Theatergruppe durchläuft einen Prozeß des Entdeckens und Erkennens, der das im Kleinen widerspiegelt, was das Theater in der Gesellschaft bewirken kann. Das gilt für uns heute genauso wie zu Aischylos‘ Zeiten, wie man bei Peter Steins Inszenierung von Schillers Wallenstein beobachten konnte. Stein hatte die ganze Trilogie an einem Tag spielen lassen, und zig Tausende kamen, um diese phantastische Aufführung mitzuerleben. Eine Besucherin beim Schillerfest war von Wiesbaden nach Berlin zu Wallenstein gefahren und dort zufällig mit Dichterpflänzchen ins Gespräch gekommen – ein Gespräch über die Macht und die Wirkung des Theaters. Nun saß sie beim Schillerfest in Mainz im Parkett und war genauso begeistert von diesem Programm wie zahlreiche andere Zuschauer.

30. November 2007 

Urheberrecht bei Dicherpflänzchen e.V.
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